Corona, Umweltkrise, Ukraine-Krieg: Jugendliche wachsen in einem Krisen-Umfeld auf. Welche Auswirkungen hat das? Prof. Benno Hafeneger aus Oberselters gibt in einem Buch Antworten.
BAD CAMBERG. Corona, Umweltkrise, jetzt der Ukraine-Krieg: Heutige Jugendliche wachsen in einem Umfeld auf, das von Krisen geprägt ist. Welche Auswirkungen hat das? Der aus Oberselters stammende Erziehungswissenschaftler Prof. Benno Hafeneger (Uni Marburg) greift in seinem neuen Buch "Was wir über Jugendliche wissen sollten" auch dieses Thema auf. Ein Gespräch mit Redakteurin Petra Hackert.
Herr Hafeneger, zu Beginn und während der Coronapandemie haben wir Schüler in Abschluss-Jahrgängen befragt und sehr unterschiedliche Reaktionen und Resultate erhalten; zum Teil den Hinweis, das Lernen sei intensiver und besser geworden, Leistungen hätten sich gesteigert. Hat die Pandemie hier etwas Positives bewirkt?
Schülerinnen und Schüler hatten kaum Probleme, wenn sie beim Distanzunterricht medial gut ausgestattet waren und technikaffin sind, günstige häusliche Bedingungen hatten und im Lernverhalten gut organisiert waren. Zum Teil gab es verbesserte Lernergebnisse. Aber dies gilt nicht für Kinder und Jugendliche aus schwierigen sozialen Verhältnissen mit ungünstigen Wohnsituationen, mit schlechter medialer Ausstattung und fehlender häuslicher Unterstützung. Auch die Lernmotivation hat bei fehlendem schulischen "Geländer" und "Halt" - das heißt, dem vorgegebenen Zeit- und Stundenrythmus, der Ansprache durch Lehrkräfte - nachgelassen und ist zum Teil ganz zusammen gebrochen.
Hinzu kommt, dass sich beim gemeinsamen Lernen Fortschritte über interaktive Prozesse entwickeln. Lehrkräfte sprachen "von einer gewissen Demut", die sie sich angeeignet hätten, weil durch das Separieren viel deutlicher geworden sei, wie wichtig das Umfeld/andere Schüler für die Entwicklung sind. Teilen Sie diese Einschätzung?
Hier sind vor allem zwei Erfahrungen deutlich geworden. Bildungsmotivation und -prozesse sind immer auch abhängig von der sozialen Herkunft und dem kulturellen Milieu, ob dies mehr oder weniger bildungsförderlich oder -hinderlich ist. Hierzu zählen auch die sozialen Beziehungen und Einbindungen unter Kindern und Jugendlichen in der Freizeit. Freundschaften, organisierte Gruppen, zum Beispiel von Jugendverbänden oder im Sport, können eine große lern- und bildungsfördernde Rolle spielen. Dann ist deutlich geworden, wie bedeutsam für Lernen und Bildung die anderen Schüler, die Klasse und die Lehrkräfte sind, in und außerhalb des Unterrichts. Gelernt wird vor allem im Miteinander, beim Zuhören und Mitdenken oder zum Mitmachen aufgefordert zu werden, dann eine Rückmeldung zu bekommen. Vielen Eltern ist die anspruchsvolle - mit Kompetenz und Geduld verbundene - professionelle Rolle von Lehrkräften erstmals besonders deutlich geworden.
"Jugendliche brauchen Gleichaltrige" schreiben Sie in Ihrem Buch. Was meinen Sie, ist in der letzten Zeit zu kurz gekommen?
Die junge Generation braucht in ihren vielschichtigen Prozessen des Erwachsenwerdens sowohl Gleichaltrige als auch Erwachsene. Beide haben entwicklungsfördernde Aufgaben und Rollen. Die Coronazeit hat mit ihren Lockdowns (Schulschließungen) und Einschränkungen schulische und außerschulische Kontakte vorübergehend eingeschränkt - die gab es zeitweise vor allem, beziehungsweise nur noch, digital, aber nicht analog, direkt und sinnlich. Die Studien zeigen, dass den Kindern und Jugendlichen vor allem ihre sozialen Kontakte, Alltagsstruktur und Beziehungen, ihre Freundschaften, Cliquen und Gruppen gefehlt haben. Sie konnten kein gemeinsames Kinder- und Jugendleben leben, weder in der Schule noch in ihrer Freizeit. Dies war für viele Kinder und Jugendliche psychisch folgenreich, verbunden mit Gefühlen von Unsicherheit, Einsamkeit und Angst, mit Spannungen und Krisen zu Hause, auch mit depressiven Stimmungen und Bewegungsarmut. Die Entwicklungszeit von Kindern und Jugendlichen ist immer auch mit Entspannung und Spaß, prä-reflexiven Verhalten und Emotionalität beziehungsweise entwicklungsbezogenen Gefühlswelten verbunden. Wenn die nicht gelebt werden können, dann fehlt ihnen gelebtes Leben, dieser notwendige und kaum mehr nachzuholende äußere und innere Entwicklungsraum.
Fridays for Future: Der Einsatz für die Umwelt stellt für manche Jugendliche eine besondere Herausforderung, aber auch eine Belastung dar. Wie geht die heutige Jugend mit einer Bürde um, die die Erwachsenen verursachen?
Wenn die junge Generation nach ihren Sorgen und Ängsten, den aktuellen politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen gefragt wird, dann steht die Klimakrise ganz oben auf der Liste. Sie wird in diese, ihr von den Erwachsenen vorgegebenen Welt, geboren und erlebt ihre Jugendzeit unter Krisenbedingungen. Man könnte sagen, sie ist krisensozialisiert, weil sie ja nur diese Jugendzeit kennt. Die Bewegung "Fridays für Future" ist eine Reaktion, die wachrütteln will und zeigt, das große Teile der jungen Generation nicht desinteressiert und resigniert ist, sondern auf die Straße geht und sich mitteilt. Es ist eine junge Generation, die in Klima- und Umweltfragen kompetent und engagiert ist. Gleichzeitig zeigen die Studien, das wir es mit einer zugleich realistischen Generation zu tun haben, deren Blick in die eigene wie gesellschaftliche Zukunft mit keinem euphorischen, aber einem gedämpften Optimismus verbunden ist.
In der Hoch-Zeit der Corona-Pandemie ging es auch darum, Ältere/Schwächere zu schützen. Wir haben in der Redaktion beobachtet, dass sich junge Leute sehr fair verhalten haben. Ist der Egoismus, der ihnen manchmal vorgeworfen wird, eher auf Seiten der älteren Generation zu finden?
Ob die erwachsene Generation eher egoistisch ist, das wissen wir nicht; aber wir wissen aus den Studien, dass der überwiegende Teil der jungen Generation in der Pandemie-Zeit großes Verständnis für die ältere Generation hatte. So gab es für die staatlichen Reaktionen und Regelungen zum Beispiel mit Blick auf Altenheime und Pflegeeinrichtungen eine große Akzeptanz und Zustimmung. Gleichzeitig wurde - auch das zeigen die Studien - kritisiert, dass sie zu den Einschränkungen für sie selbst nicht einbezogen waren und gefragt wurden, über ihre Köpfe hinweg entschieden wurde. Hier ist viel Politikverdrossenheit erzeugt worden, zumal immer wieder von Jugendbeteiligung und Partizipation die Rede ist und aufgefordert wird mit zu machen.
"Die Jugend" ist eine sehr pauschale Begrifflichkeit, die Sie selbst auch in dieser absoluten Form vermeiden. Was lesen Sie aus den Studien: Was bewegt die Mehrzahl der Jugendlichen von heute?
Jugend ist ein altersbezogener und rechtlicher Sammelbegriff. Die Geschichte von Jugend zeigt seit Beginn des 20. Jahrhunderts, wie sie sich immer wieder verändert hat. So haben wir es heute in Wirklichkeit mit Jugend im Plural, mit vielen Jugenden zu tun. Dazu zählen vor allem Merkmale wie Alter, Geschlecht, Herkunft, Milieu, Bildung/Ausbildung und sozialer Status, sexuelle Lebensweise, dann ihre soziale, kulturelle oder auch politische Einbindung und Orientierung. Früher - heute weniger - waren es noch Stadt/Land oder religiöse Zugehörigkeit. Vor diesem Hintergrund haben Jugendliche jeweils ihre unterschiedlichen Erfahrungen und Interessen, Vorlieben und Lebensweisen, Sorgen und Ängste. Im Mittelpunkt stehen zunächst das Gelingen ihres Alltags, ihre jeweilige biografische Entwicklung und ihr schulisches, berufliches Weiterkommen. Das ist ihre wirkliche Welt und das zentrale Interesse. Bei der Frage, was sie gesellschaftlich und politisch bewegt und was ihnen Sorge und Angst macht, sind es aktuell die Antworten: ökonomisch-soziale (Un-)Sicherheit, soziale Spaltung und Ungleichheit, Klimakrise, Krieg in der Ukraine und Pandemie.
Was brauchen Jugendliche ganz besonders, um gestärkt aus den aktuellen Krisen hervorzugehen?
Die Zukunft muss positiv besetzt werden können, sie muss einladen und es muss sich lohnen, erwachsen zu werden. Hier ist die Gesellschaft herausgefordert, an dieser positiven Zukunftserwartung und -hoffnung mitzuarbeiten, der jungen Generation solche Perspektiven zu ermöglichen. Die junge Generation muss die Erfahrung von Wirksamkeit machen, dass ihr zugehört und sie ernst genommen wird, dass sie in einem produktiven Generationsverhältnis in allen gesellschaftlichen Bereichen Anerkennung zu Zugehörigkeit erfährt. Es geht um die Erfahrung, dass gemeinsam an der Lösung von Krisen gearbeitet, um die besten Wege ernsthaft und demokratiebewusst gestritten wird.
Was hat sich durch die Pandemie verändert?
Mit Blick auf die Corona-Pandemie geht es in pädagogischer Begleitung um aufklärende Informationen und die gemeinsame differenzierte Deutung von kritischen Ereignissen und des gesamten Krisengeschehens. Die Pandemie-Zeit war mit einschneidenden Veränderungen im Alltag verbunden, die prägend waren und damit - im Sinne von Pandemiebewältigung - auch als Unterrichtsgegenstand zu behandeln sind. Krisenerfahrungen können immer auch - im positiven Sinne - Lernanlässe und Herausforderungen sein; sie stellen Routinen infrage und provozieren Veränderungen und neue Entwicklungen.