
Kanzler Olaf Scholz (SPD) hat Fragen von Bürgern beantwortet und Alleingänge bei der Unterstützung der Ukraine abgelehnt. Viele Besucher haben Angst vor einer weiteren Eskalation.
Marburg. Einen Tag lang hat der Besuch von Kanzler Olaf Scholz (SPD) das Leben in der Universitätsstadt merklich beeinflusst. Immer wieder kam es zu Behinderungen, wenn der beachtliche Tross des Regierungschefs durch Marburgs Straßen rollte: Erst zu Biontech, dann zum Kinder- und Jugendparlament. Schon dort beantwortete Scholz viele Fragen und lud die Kinder gar ins Kanzleramt ein.
Abends dann: „Kanzlergespräch” im Lokschuppen. „Es gibt keine bessere Erdung”, sagt Scholz zu Beginn. Das Kanzleramt hatte dafür 150 Plätze verlosen lassen, ohne gezielt Fragesteller auszuwählen - das ließ auch kritische Fragen erwarten. Der Kanzler, wie gewohnt im grauen Anzug, weißen Hemd und ohne Krawatte, grüßt mit einem knappen „hallo”, antwortet dann aber auf jede Frage ausführlich.
Ein Soldat weist auf den Trubel in der Ministerriege hin, die Fettnäpfchen der früheren Verteidigungsministerin Lambrecht, die Diskussionen um die gerade verkündete Kandidatur von Innenministerin Nancy Faeser - frage sich der Kanzler nicht, welches Kabinettsmitglied wieder die Büchse der Pandora geöffnet habe? Er könne gut schlafen, sagt Scholz. „Der Verteidigungsminister ist ein erstklassiger Mann.” Die Bundeswehr sei „ziemlich gespart” worden, verantwortlich seien Verteidigungsminister von CDU und CSU. „Der letzte von der SPD war Peter Struck, und den haben die Soldaten meiner Erfahrung nach ziemlich gemocht.”
Ein Gast fragt, warum es kein Tempolimit gebe, wo das doch nachweislich das Klima schonen könne. Der Kanzler nennt die FDP nicht namentlich, sagt aber, dass das mit den derzeitigen Mehrheiten nicht umzusetzen sei. Ebenso wenig wie die Verankerung der Grundrechte von Kindern im Grundgesetz. Dafür sei eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag, also auch die Zustimmung der Union, notwendig. „Ich wünschte mir, dass längst der Fall wäre.”
Erst wenige Stunden alt ist die, wenngleich wenige überraschende, Meldung, dass Nancy Faeser Spitzenkandidatin der hessischen SPD zur Landtagswahl ist. Ihre Aufgabe als Bundesinnenministerin werde sie nicht vernachlässigen, sagt Olaf Scholz auf Nachfrage einer Frau. „Die wird jeden Tag alles tun.”
Diplomatie als Alternative?
Dann, nach 16 Minuten, kommen die ersten Fragen zum Ukrainekrieg. Mehrere Besucher fordern mehr Verhandlungen. Der erste Frager zum Thema erhält den ersten Applaus: Der Marburger erinnert Scholz an dessen Aussagen im vergangenen Jahr, es gebe keine Lieferungen von Waffen und Panzern an die Ukraine. „Wie können wir darauf vertrauen, dass diese Eskalationsspirale nicht immer weiter geht?”, fragt der Mann, der nach eigenen Angaben in der Friedensbewegung aktiv ist. „Wäre nicht Diplomatie die Alternative?”
„Ich bin froh, dass sie mir die Frage stellen, und auch über den Applaus, den sie bekommen.” „In einem Interview ist mir die Frage noch kein einziges Mal gestellt worden”, sagt Scholz. Dann erklärt er, dass Russland möglicherweise die ganze Ukraine erobern wollte. „Das können wir nicht akzeptieren.” Es dürfe in Europa keine gewaltsame Verschiebung von Grenzen mehr geben. „Das können wir nicht akzeptieren.”
In Europa sei Deutschland inzwischen das Land mit den meisten Waffenlieferungen, „auch wenn das manchmal anders wirkt”. Aber alle Schritte müssten sorgfältig abgewogen werden. Eine Eskalation müsse verhindert werden, ein Krieg zwischen Russland und der Nato „wäre furchtbar”. „Wenn einige Leute rufen ‘geh voran’, dann sage ich: Das ist nicht der richtige Weg. Wir gehen gemeinsam mit anderen Partnern in Europa.”
„Wann streckt Putin die Waffen?”, will eine Frau wissen. „Es muss so sein, dass der russische Präsident versteht, dass er sein Ziel nicht erreichen wird.” Eine andere Frau fordert Scholz auf, nach Lösungen zu suchen. Sie habe Angst, dass Russland Deutschland angreift. „Fragen Sie Putin, ob er zu Verhandlungen bereit ist.” „Die Gefahr von Eskalation ist immer da”, antwortet der Kanzler. Mehrfach am Abend betont er, dass er sich mit anderen Staaten abstimme: „Wir müssen genau überlegen, was wir machen.” Es sei wichtig, „dass wir nicht alleine marschieren.”
Er spreche immer wieder mit Putin. Scholz erinnert an das Gespräch am „sieben Meter langen Tisch”, dessen Bild um die Welt ging und bei den Besuchern für einzelne Lacher sorgt. Der Krieg sei nicht gerechtfertigt, und deshalb sei die Unterstützung der Ukraine richtig.
Eine direkte Antwort bleibt Scholz auf die Frage einer Mitarbeiterin des UKGM schuldig. Die 500 Millionen Euro Pflegebonus gingen nur an bettenführende Stationen, aber nicht in die Notfallbereiche. Warum? Der Kanzler verweist auf die von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) geplante Krankenhausreform. Sie solle eine gerechtere und bessere Finanzierung ermöglichen. Warum viele Pflegekräfte bei Coronazahlungen leer ausgehen, beantwortet er auf eine weitere Nachfrage nicht, sagt nur pauschal: „Man müsste überall mehr Geld bekommen”, die Reform solle das Problem beseitigen, „dass sich einzelne Bereiche nicht gut behandelt fühlen”.
„Nicht alle Eier in einem Korb”
Olaf Scholz betont die Notwendigkeit, in der Energieversorgung unabhängiger von einzelnen Staaten zu werden, verweist auf den schnellen Bau der Flüssiggas-Terminals. „Wir haben in ganz kurzer Zeit das gemacht, was wir schon immer hätten tun sollen.” Um unabhängiger zu werden, müsse man vorübergehend auch wieder auf Kohlestrom setzen: „Was mir wirklich wegen des Klimas nicht gut gefällt. Hätten wir nicht alle Eier in einen Korb gelegt, wäre es besser gewesen.” In der Konsequenz werde Energie „ein bisschen teurer, da sollten wir uns nichts vormachen”.
Nach 90 Minuten sind noch viele Hände oben, doch die Fragen bleiben unbeantwortet. Immerhin: Jeder, der möchte, bekommt noch ein Selfie mit dem Bundeskanzler. Die Gelegenheit nehmen fast alle Besucher wahr.
Das komplette Kanzlergespräch in Marburg ist in der Mediathek des Fensehsenders Phoenix abrufbar.