"Wir müssen solidarisch sein"

Judith Simon aus Homberg/Ohm ist in Deutschland die erste Professorin für Ethik im Fachbereich Informatik, und sie ist Mitglied des Deutschen Ethikrates. Das Gremium berät die Bundesregierung zu ethischen Fragen, auch aktuell in der Corona- Krise.  Foto: UHH/Nicolai

Judith Simon gehört dem Deutschen Ethikrat an, der die Bundesregierung auch zur Corona-Krise berät. Im Interview spricht sie über Beschränkungen, deren Lockerung und die...

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. HOMBERG(OHM)/BERLINDie Corona-Pandemie wirft viele ethische Fragen auf, zum Beispiel: Wie sollen Ärzte auswählen, wenn es mehr Patienten als Beatmungsgeräte in Kliniken gibt? Wie weit darf der Gesundheitsschutz die Freiheitsrechte der Menschen beschneiden? Sind Einschränkungen gegen die Ausbreitung der Seuche vertretbar, wenn sie zugleich Existenzen in wirtschaftlicher Hinsicht zerstören?

Judith Simon aus dem mittelhessischen Homberg/Ohm ist Professorin für Ethik, und sie ist Mitglied des Deutschen Ethikrates. Das Gremium berät aktuell die Bundesregierung zu ethischen Fragen der Corona-Pandemie. Im Interview spricht sie über ihren moralischen Kompass in der Krise, über Kontaktbeschränkungen, eine Lockerung der Maßnahmen und über die drohende Triage.

Frau Simon, was ist Ihr moralischer Kompass für die Corona-Krise?

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Was mir immer wieder klar wird: wie dankbar man sein muss - einerseits für eigene, gute Umstände und andererseits gegenüber all denen, die gerade den Laden am Laufen halten. Ich bin zum Beispiel jetzt jeden Tag dankbar, dass ich einen Garten habe, dass meine Familie rausgehen kann, dass ich von zu Hause arbeiten kann und einen sicheren Arbeitsplatz habe. Wir haben auch im Verhältnis zu vielen anderen Ländern ein gutes Gesundheitssystem, das zwar auch an seine Grenzen kommen kann, aber erst viel später als vielleicht anderswo. In den meisten Ländern dieser Welt geht es den Menschen wesentlich schlechter, und die Folgen von Corona werden dort viel schwerwiegender sein - auch hier müssen wir solidarisch sein. Ich glaube, es ist sehr wichtig, sich der eigenen Privilegien und dessen, was man alles hat, bewusst zu werden und es wertzuschätzen - und dann die zu unterstützen, denen es gerade schlechter geht. Dankbarkeit kann also helfen, solidarisch und verantwortungsbewusst zu handeln. Mir hilft das, mit Einschränkungen besser umzugehen - auch wenn mir natürlich selbst auch ab und an die Decke auf den Kopf fällt. Unser großer Dank sollte aber vor allem auch denen gelten, die dafür sorgen, dass trotz Einschränkungen vieles weiter funktioniert: von den Menschen im Gesundheits- und Pflegewesen, in den Supermärkten bis zu denen, die in der Politik schwierige Entscheidungen treffen müssen. Ich hoffe, wir vergessen die Systemrelevanz vieler derzeit schlecht bezahlter Berufe nicht nach der Krise und werten diese entsprechend auf.

Solidarität ist offenbar nicht allen gegeben. Es gibt auch Menschen, die Fremde beschimpfen, die jetzt in ihren Orten auftauchen, und deren Autos mit Steinen bewerfen. Werden in der Krise Mitmenschen plötzlich zur potenziellen Gefahr, und werden aus Corona-Infektion auch Schuldfragen abgeleitet?

Der Corona-Virus und die Abstandsregeln führen natürlich auch dazu, dass wir den Anderen auf einmal als eine Gefahr sehen. Hinzu kommt, dass viele Menschen unter großem Druck stehen und angespannt sind. Manche haben finanzielle Sorgen, und es ist auch eine Belastung, wenn man nicht raus kann. Deswegen liegen vielleicht bei vielen Leuten die Nerven ein bisschen blank. Wir tun alle gut daran, mit einem Augenmaß an Gelassenheit sowohl uns als auch anderen gegenüber nachsichtig zu sein und nicht immer gleich das Schlechteste anzunehmen. Wenn jemand ein fremdes Kennzeichen hat, heißt das noch lange nicht, dass er dort nichts verloren hat, und wer drei Rollen Toilettenpapier im Wagen hat, kauft vielleicht für die Nachbarin mit ein.

Richten wir den Blick auf die Politik: Der Gesundheitsschutz erfordert viele Abwägungen, zum Beispiel, wie verhältnismäßig die Beschränkungen sind, wenn dadurch Unternehmen die Pleite und vielen Menschen der Arbeitsplatzverlust droht. Wie löst man das Dilemma?

Das ist alles andere als einfach. Der Deutsche Ethikrat hat gerade eine Stellungnahme herausgegeben, in der wir zwei große Themen verhandeln: die Öffnungsperspektive und das Problem der Triage. Unsere Position ist: Im Moment ist es noch zu früh für Öffnungen und auch für eine Festlegung, wann welche Maßnahme gelockert werden sollte. Derzeit ist die Infektionsrate noch zu hoch, um die derzeitigen Maßnahmen zurückzufahren. Auf der anderen Seite ist es wichtig, dass wir Kriterien benennen, unter welchen Voraussetzungen man das Leben auch wieder öffnen kann.

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Ist ein Zeitpunkt für Lockerungen absehbar?

Wir sollten die Politik jetzt nicht auf einen Zeitpunkt festnageln, an welchem Tag, was geschehen muss. Das wäre unredlich. Wir sollten uns darauf einstellen, dass es in den nächsten Monaten und wahrscheinlich im ganzen nächsten Jahr immer wieder ein Auf und Ab geben wird zwischen Beschränkungen und Öffnungen und erneuten Beschränkungen und Öffnungen, die vielleicht unterschiedliche Regionen oder Personengruppen unterschiedlich und zu unterschiedlichen Zeitpunkten betreffen werden. So lange es keinen Impfstoff gibt, müssen wir die Maßnahmen idealerweise so dosieren, dass unser Gesundheitssystem nicht überlastet wird.

In Texas forderte ein Politiker, ältere Menschen sollten sich gewissermaßen für die Gesellschaft opfern.

Das ist natürlich völlig daneben. Es ist absolut indiskutabel, zu verlangen, dass wir eine bestimmte Personengruppe opfern, damit der Rest bessere Chancen hat.

Auch in Deutschland schwindet die Geduld, und es tauchen vermehrt Forderungen auf, der Natur und damit einer Durchseuchung freien Lauf zu lassen. Ist das "Survival of the fittest" eine Auslese von alten und von kranken Menschen?

Wenn man das machen würde, ohne einen Impfstoff zu haben, ist das grob fahrlässig. Und ich halte es für absolut inakzeptabel, das zu tun. Es besteht auch keine Notwendigkeit. Es ist wesentlich sinnvoller, die Infektionsraten mittels Kontaktverboten so zu steuern, dass wir langfristig unser Gesundheitssystem nicht überlasten. Wir müssen sicher auch irgendwann darüber reden, wann, wie und für welche Personengruppen wir sie aufheben. Das ist ganz klar, denn das kann kein Zustand sein, in dem wir ein Jahr verbringen. Aber diese Idee, man könne ja Leute opfern, indem man die Schwächsten der Gesellschaft nicht mehr schützt, ist eine absolut inakzeptable Position. Wir können nicht alle Beschränkungen fallen lassen und dann schauen, wer überlebt.

Der Ethikrat fordert eine Debatte über den Ausstieg aus den Beschränkungen. Warum?

Die Politik sagt im Moment, es sei noch nicht der Zeitpunkt für Öffnungen. Das ist auch richtig. Nichtsdestotrotz müssen natürlich Überlegungen angestellt werden, welche Maßnahmen, in welcher Reihenfolge erfolgen sollen. Es ist auch wichtig für die Bevölkerung, da eine Perspektive zu haben. Man sollte jetzt noch keine Termine fordern und die Politik darauf festnageln, aber man sollte sich darauf verständigen, was wichtige Kriterien für Öffnungen sind. Und dazu sollten möglichst viele Personen gehört werden. Dem Ethikrat war es wichtig, zu sagen: Das erfordert eine breite gesellschaftliche Debatte. Das ist eine Entscheidung und ein Abwägungsprozess, der ein politischer und ein demokratischer ist. Da spielt das Wissen von Virologen und Epidemiologen eine entscheidende Rolle, aber es ist nicht das einzige Kriterium.

Welche Kriterien noch?

Wir müssen auch abwägen mit sonstigen Kosten, die durch den Lockdown entstehen. Das können wirtschaftliche Schäden sein, aber auch andere Faktoren spielen eine Rolle: die Belastung von Familien und der Anstieg von häuslicher Gewalt oder auch die Frage, was ist mit Personen in Pflegeheimen, die jetzt nicht mehr besucht werden können und vielleicht auch irgendwann alleine und ohne ihre Angehörigen sterben? Hier müssen sehr viele unter sehr unterschiedliche Gefahren beziehungsweise Nachteile gegeneinander abgewogen werden. Und dann wird es vielleicht dazu kommen, dass es eventuell unterschiedliche Regelungen für unterschiedliche Regionen gibt.

Im Fernsehen sieht man zurzeit vor allem Virologen und Regierungschefs, die den Ton angeben. Wo sind die Diskussionen in den Volksvertretungen, wo werden die Meinungen aus der Gesellschaft abgebildet?

Wenn man Zeitungen liest, sieht man aber schon, dass auch andere Personengruppen zu Wort kommen. Und in den Fernseh-Talkshows sitzen zum Beispiel auch Vertreter aus der Pflege oder Psychologen. Natürlich sind die Virologen und Epidemiologen zurzeit im Blickpunkt. Das ist auch wichtig, dass sie im Moment gehört werden, aber es ist auch genauso wichtig, zu sagen, es gibt noch andere Perspektiven.

Eine Debatte braucht auch Meinungsstreit. Aber wie kann es den geben, wenn ständig Zusammenhalt gefordert wird?

Ich glaube, es ist kein Widerspruch, über Inhalte, Positionen und mögliche Kriterien und Maßnahmen erst mal auch kontrovers zu diskutieren, so lange man, wenn Entscheidungen getroffen werden, auch gemeinsam dahintersteht. Es gibt im Moment noch einen großen Zusammenhalt und auch einen großen Rückhalt in der Bevölkerung, wenn es um die Umsetzung der ganzen Maßnahmen zum Kontaktverbot geht. Zumindest erlebe ich das so. Und das empfinde ich als eine großartige Sache. Auch in der Politik gibt es in Deutschland derzeit ein großes An-einem-Strang-Ziehen der demokratischen Parteien. Das finde ich sehr gut, denn in Krisenzeiten muss man auch zusammenstehen. Trotzdem kann es auch eine kontroverse Diskussion über die besten Maßnahmen geben. Wichtig ist aber immer, dass es um Sachfragen geht und nicht um Eitelkeiten.

Ein weiteres Thema, das sowohl Mediziner und die Öffentlichkeit als auch den Ethikrat beschäftigt, ist die Triage. Wenn in Kliniken die Kapazitäten nicht mehr reichen, könnten Ärzte vor der Entscheidung stehen, welchen Patienten sie an ein verbleibendes Beatmungsgerät anschließen und welchen nicht. Darf es dann eine Rolle spielen, ob ein Patient 90 Jahre alt und vorerkrankt ist oder 40 Jahre alt und ansonsten gesund?

Prinzipiell ist es so, dass alle Menschen gleich zu behandeln sind und man nicht vorschreiben kann, wer zu bevorzugen ist. Man kann also auf keinen Fall sagen, alte Menschen kommen nicht mehr an die Beatmungsgeräte. Das ist auch mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Dennoch kann es passieren, dass zwischen zwei Personen entschieden werden muss und da hilft es dann nicht, zu sagen, du darfst nicht entscheiden. Der Ethikrat hat hier zwischen zwei Szenarien unterschieden. Das eine Szenario: Zwei Personen kommen zeitgleich ins Krankenhaus und müssen beatmet werden, aber es gibt nur ein Beatmungsgerät. In dieser Situation werden Ärztinnen und Ärzte voraussichtlich auch die Erfolgswahrscheinlichkeit der Behandlung als Entscheidungskriterium heranziehen, wem sie das Gerät geben, sie dürfen aber nicht kategorisch bestimmte Personengruppen benachteiligen.

Das zweite Szenario: Ein Patient ist schon an ein Beatmungsgerät angeschlossen, und ein neuer Patient kommt ins Krankenhaus. Selbst wenn dieser neue Patient mit einer Beatmung eine größere Überlebenswahrscheinlichkeit hätte, dürfte der andere nicht abgehängt werden. Die ärztlichen Fachgesellschaften haben hierzu Vorgaben entwickelt, um Ärztinnen und Ärzte zu unterstützen, damit diese mit diesen außerordentlich schwierigen Gewissensentscheidungen nicht alleine gelassen werden.

Sie stammen aus Mittelhessen, welchen Bezug haben Sie zur Region, was verbindet Sie mit Mittelhessen?

Ich bin sehr regelmäßig noch zu Besuch bei meinen Eltern in Schadenbach, dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin.

Das Interview führte Jörgen Linker.