Gutachter zum Tod von 21-Jähriger: "Insulinmangel war erkennbar"

Warum wurde einer Sterbenden die Rettung versagt? Um diese Frage ging es am Mittwoch vor dem Landgericht Limburg.  Foto: Glotz

Wäre der sich rapide verschlechternde Gesundheitszustand der 21-Jährigen aus Ehringshausen erkennbar gewesen und hätte sie überlebt, wenn die Familie früher den Notarzt...

Anzeige

EHRINGSHAUSEN/LIMBURG. Wäre der sich rapide verschlechternde Gesundheitszustand der 21-Jährigen aus Ehringshausen erkennbar gewesen und hätte sie überlebt, wenn die Familie früher den Notarzt gerufen hätte? Diese Fragen standen im Mittelpunkt des nunmehr elften Verhandlungstages in dem Strafverfahren gegen die Eltern und die 25-jährige Schwester der Verstorbenen.

Sie sollen den langsamen Tod der Angehörigen, die mit dem Down-Syndrom geboren wurde, billigend in Kauf genommen haben. Neben der genetischen Disposition einer Trisomie 21 war die junge Frau seit früher Kindheit Diabetikerin Typ 1 und litt zudem an einer Glutenunverträglichkeit (Zöliakie).

Gutachter Professor Jörg Bojunga, Leiter der Endokrinologie und Diabetologie an der Uniklinik Frankfurt-Sachsenhausen, berief sich auf rechtsmedizinische Untersuchungen, die ohne Zweifel eine Ketoaszidose als Todesursache festgestellt hatten. Diese Komplikation des Diabetes mellitus trete bei absolutem Insulinmangel auf und ist quasi das Gegenstück einer Unterzuckerung.

Anzeige

Die junge Ehringshäuserin war zwar mit einer Insulinpumpe versorgt, doch offenbar war das Medikament verbraucht. "In einem solchen Fall zeigen Patienten nach spätestens zwölf Stunden deutliche Symptome. Sie werden immer schwächer und das Bewusstsein trübt sich ein", erläuterte der Experte.

Der Zustand verschlechtere sich fortwährend und in einem späteren Stadium falle dem Betroffenen auch das Atmen immer schwerer. "Spätestens nach 48 Stunden ohne Insulin schwebt der Patient in akuter Lebensgefahr, doch weiß man schon seit Ende des 19. Jahrhunderts, dass Übelkeit und Bauchschmerzen typische Warnsignale der Blutzuckerentgleisung sind." Eine kleine Menge Insulin würde genügen, um die gefährliche Ketoaszidose zu verhindern.

Professor Bojunga ist sich sicher, dass jeder Außenstehende spätestens nach zwölf Stunden Insulinmangel die Symptome erkennen würde. Diabetes-geschulte Personen, so wie es die Eltern der Verstorbenen fraglos sind, sogar noch deutlich früher.

Aus den Akten konnte der Gutachter entnehmen, dass die angeklagte Mutter den Diabetes ihrer Tochter lange selbst behandelt und stets dafür gesorgt hatte, dass der Blutzucker im Normbereich blieb. Auch sei der am 6. Oktober 2016 ausgelesene Durchschnittswert, wie ihn die Insulinpumpe aufgezeichnet hatte, in Ordnung gewesen. Warum die Mutter dann aber, als es der jungen Frau Ende Oktober 2016 immer schlechter ging, nicht adäquat gehandelt habe, konnte Bojunga nicht nachvollziehen.

Der auf Kinder- und Jugendmedizin spezialisierten Gutachter Prof. Hartwig Lehmann gab zu bedenken, wie belastend das Familienleben mit einer Tochter, die stets auf fremde Hilfe angewiesen ist, sein kann.

Anzeige

Zwar hätten die Eltern mit großem Aufwand versucht, die Defizite auszugleichen, doch sei ein Lohn der Gesellschaft dafür ausgeblieben. "Ich denke, dass es sich lohnen könnte, die Familiendynamik näher zu betrachten", so Lehmann. "Vielleicht findet sich dann eine Erklärung, warum der Sterbenden die Rettung versagt wurde."

"Möglicherweise möchten sich die Angeklagten nach den Erkenntnissen der von Prof. Bojunga vorgetragenen Expertise neu positionieren", stellte der Vorsitzende Richter Andreas Janisch in den Raum. Allerdings mache nach deren bisherigen Einlassungen ein psychologisches Gutachten keinen Sinn. Denn nach Aussage der Eltern hatten sie die Notsituation nicht erkannt und deshalb den Notruf erst abgesetzt, als es schon zu spät war. Beim Eintreffen der Rettungskräfte war bei der 21-Jährigen bereits kein Lebenszeichen mehr erkennbar.

Janisch wandte sich an die Verteidiger der drei Angeklagten mit der Empfehlung, sie mögen sich mit ihren Mandanten beraten, ob diese sich nicht noch einmal äußern wollen. Dann könnte ein psychologisches Gutachten eventuell helfen, die Vorgänge zu verstehen.

Der Prozess wird am 13. August fortgesetzt.