Er hat als Lehrer in Australien und Peru gearbeitet, ist um die Welt gereist. Dann kam die Diagnose: Rheuma. Seitdem ist der Herborner Kurt Siegfried auf die Tafel angewiesen.
Herborn/Dillenburg. Ein Blumenstrauß kann vieles sein: ein Last-Minute-Geschenk, eine verkorkste Entschuldigung oder ein obligates Zeichen der Wertschätzung. Für den Herborner Kurt Siegfried ist so ein Strauß Luxus. Er ist nichts, was er sich einfach so kaufen würde, geschweige denn ohne schlechtes Gewissen leisten könnte. Das war nicht immer so. Siegfried ist um die Welt gereist. Hatte einen Job, der ihm Spaß gemacht hat. Dann wurde er krank. Heute ist der 62-Jährige auf die Hilfe der Dillenburger Tafel angewiesen – wo er mittlerweile auch seine Blumensträuße herbekommt.
Kurt Siegfried heißt eigentlich anders. Er will nicht, dass sein echter Name veröffentlicht wird. Der Herborner befürchtet, dass seine Kinder sonst gemobbt werden könnten. Ehe er vor zehn Jahren das erste Mal zur Tafel gegangen ist, hatte er ja selbst Vorurteile. „Ich habe auch gedacht, die wollen alle nicht arbeiten”, erinnert sich Siegfried. Heute weiß er, dass das nicht stimmt. Viele teilen sein Schicksal: Krankheit, Berufsunfähigkeit, Tafel. „Das geht ruckzuck, ein Schlaganfall und schwups”, sagt der 62-Jährige. Es kann jeden treffen.
Auch dass Siegfried einmal auf die Tafel angewiesen sein wird, war nicht abzusehen. Er ist gelernter Sozialversicherungsfachangestellter, sei quasi verbeamtet gewesen – und somit finanziell relativ gut abgesichert. „Ich war aber nicht für den Beruf geboren”, erzählt er. Also schulte der Herborner um. Er studierte Lehramt. Dann zog es ihn in die weite Welt.
Lehrer in Peru und Australien
Als Lehrer arbeitete er an deutschen Auslandsschulen. Er unterrichtete im peruanischen Lima und im australischen Melbourne vor allem Kinder deutscher Auswanderer, aber auch Einheimische. „Es war toll”, erinnert sich Siegfried. „Man hat da nicht den Stress, den man hier in den Schulen hat.”
Und auch außerhalb seines Jobs lief es gut. Er reiste viel, habe 30 Länder besucht, verschiedene Kulturen und Menschen kennengelernt. Kurz gesagt: Er lebte gut. Dann wurde er krank.
„Ich konnte die Kreide nicht mehr halten”, erinnert sich der ehemalige Lehrer. Er hatte Schmerzen. Etwa ein Jahr, nachdem das begonnen hatte, erhielt er die Diagnose: Rheuma. Siegfried kehrte für die Behandlung nach Deutschland zurück. Heute sei sein Rheuma vorerst gestoppt. Aber er befürchtet, dass es wieder schlimmer werden könnte. „Irgendwann werde ich meine Hände gar nicht mehr bewegen können”, sagt der 62-Jährige. Schon jetzt sind seine Finger durchs Rheuma verkrümmt. Die Kälte macht es noch unangenehmer für ihn. Er macht niemandem einen Vorwurf. „Gewisse Sachen kann man einfach nicht aufhalten.”
Siegfried hatte Glück im Unglück. Er erbte das abbezahlte Haus seiner Eltern. Weil er aber lange nicht in Deutschland gearbeitet hatte und als Lehrer im Ausland nicht verbeamtet gewesen sei, falle seine Berufsunfähigkeitsrente vergleichsweise gering aus. Das gelte zumindest für die Lebenssituation, in der er sich gerade befindet.
Siegfried wohnt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern zusammen. Seine Frau, eine Australierin, ist ebenfalls chronisch krank, seine Tochter (18) macht Abitur, sein Sohn (26) studiert. „Die Rente würde vielleicht für mich reichen. Wir sind aber vier Personen. Das ist das Problem.”
Rheuma, wenig Geld: Das ist hart. „Jemand, der krank ist, beschäftigt sich erstmal mit seiner Krankheit. Dann reicht das Geld nicht mehr, dann müssen Sie Anträge stellen, obwohl Sie das eigentlich gar nicht wollen – aber Sie müssen es tun”, sagt Siegfried.
Ob eine kleine Rente oder Hartz IV: „Wenn man ein Einkommen hat, das vom Staat kommt, hat man ein Problem”, sagt Siegfried. Trotzdem werde man in Deutschland irgendwie aufgefangen. „Es gab immer Essen, es gab immer Wärme”, stellt er klar. Dafür sorgt aber nicht ausschließlich der Staat, sondern auch das Ehrenamt, die Tafel.
Ein wenig Luxus dank der Tafeln
Gebe es die Organisation nicht, sei das für Siegfried zwar keine Frage des Überlebens, aber eines akzeptablen Lebens. Ohne die Tafel gebe es in den letzten zehn Tagen des Monats nur Spaghetti, sagt der Herborner. „Bei Kindern ist das, finde ich, eine Schweinerei.” Durch die Tafel spare er Geld. Und Geld ermöglicht gesellschaftliche Teilhabe. Das kann schon der Besuch eines Kinos sein.
Bei der Tafel bekommt außerdem Siegfried Dinge, die er sich eigentlich nicht leisten kann, die aber für viele normal sind – wie ein Blumenstrauß. „Wenn sie welche haben, nehme ich mir immer einen mit”, sagt der 62-Jährige und lächelt. Der Strauß ist für den Herborner nicht nur ein Zeichen von Luxus, sondern auch von Wertschätzung. Aber nicht der obligaten, sondern der wahrhaftigen. Den Strauß kriegt er schließlich von Menschen, die ihm und seiner Familie helfen – obwohl sie das nicht müssten.