2400 Ukrainer verbringen dieses Weihnachten im Lahn-Dill-Kreis – ein Gespräch mit zwei Frauen, die jetzt in einem Containerdorf leben, über Krieg, Flucht, Alltag und das Fest.
Mittenaar/Wetzlar/Dillenburg. Vor einem Jahr saß Oksana Bondarenko in ihrer 63-Quadratmeter-Wohnung in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Mit ihren Kindern und den Enkeln. Familie, Weihnachtsbaum, Geschenke, Süßigkeiten, und es lag Schnee - daran erinnert sich die 59-Jährige. Fünf Monate später flüchtet sie vor dem Krieg, vor russischen Raketen, die über sie hinwegflogen. Sie will ihre Enkelin in Sicherheit bringen. Jetzt lebt sie gemeinsam mit der 13-jährigen Margerita im Lahn-Dill-Kreis. Diese Weihnachten verbringen die beiden in einem Wohn-Container in Ballersbach.
Rund eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine sind mittlerweile in Deutschland registriert, davon leben rund 2400 im Lahn-Dill-Kreis. Nummern bedeuten Anonymität. Aber hinter diesen Zahlen stecken Menschen. So wie Oksana Bondarenko. Sie war Erzieherin in einem Kindergarten. Arbeit, Kochen, Einkaufen, auf die Enkel aufpassen und mit ihnen Hausaufgaben machen, das war ihr Alltag. Wie empfand sie ihr Leben in der Ukraine? Die 59-Jährige zeigt die Antwort, sie streckt beide Daumen nach oben.
Dann kommt der 24. Februar. Wladimir Putin befiehlt der russischen Armee die Invasion in der Ukraine. Oksana fährt in Kiew um fünf Uhr früh mit dem Bus zur Arbeit. Sie hört Sirenen. Luftalarm. Und ihre Tochter ruft auf dem Handy an: „Mama, komm nach Hause! Der Krieg hat angefangen.“ Auf dem Heimweg dann überall Chaos und Stau.
Die alten Leute sagen, das ist ein schlechtes Omen.
Oksana erinnert sich, dass in den vergangenen zwei Jahren in den Wäldern sehr viele Pilze gewachsen seien. „Die alten Leute sagen, das ist ein schlechtes Omen.“
Daheim fließen Tränen. Ihr erster Gedanke? „Panika, Panika, Panika.“ Und die Enkelin verfällt regelrecht in Schockstarre. Sie weiß plötzlich nicht mehr, wie sie heißt und wo sie wohnt. Die Tochter schreibt alle Daten auf einen Zettel und steckt diesen in die Schuhe der 13-Jährigen. So, wie es ihre Mutter Oksana 1996 schon einmal bei ihr gemacht hatte. Damals, nach der Katastrophe im Atomkraftwerk in Tschernobyl, als die Sowjetunion die Kinder evakuiert und hinter den Ural gebracht habe.
So übersetzt es Valeri Botnar aus dem Russischen ins Deutsche. Er stammt aus Kasachstan, lebt schon lange in Deutschland, in Bicken, und gehört dort einem Netzwerk von Helfern an, die sich um die Flüchtlinge in dem Containerdorf an der Alsted-Schule zwischen Bicken und Ballersbach kümmern. Wobei, „Containerdorf“ hört er nicht gerne. Das klinge so abwertend. Er sagt „Schuldorf“.
Die Kreisverwaltung hat die zwölf Container neben der Schule in Ballersbach aufstellen lassen. Unterkünfte für rund 40 Flüchtlinge, Büro, Aufenthaltsraum, Küche, Waschküche, außerdem Dusch- und Toiletten-Container. Das DRK aus Dillenburg betreut die Menschen.
Im Kinderzimmer der Feuerschein der Granaten
Auch Valentina Khodosevych, 62, lebt jetzt in einem dieser Wohncontainer, gemeinsam mit ihrem inzwischen 18-jährigen Enkelsohn Vitali. Sie stammt aus Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, im Nordosten gelegen, nur 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, sie lebte dort in einer Dreizimmer-Wohnung mit ihrem Sohn sowie dem 18-jährigen Enkelsohn, das Kind ihrer Tochter, die vor fünf Jahren gestorben war.
Valentina ist Raumpflegerin, putzte viermal die Woche in einem Einkaufszentrum. Auch am 24. Februar putzt sie. Nachmittags holt ihr Sohn sie ab. Sie fahren an einer brennenden Garagenreihe vorbei, dort ist eine Granate eingeschlagen. „Das war schon heftig.“ Charkiw ist bereits Ende Februar eines der Hauptangriffsziele russischer Raketenangriffe, laut Human Rights Watch werden dabei auch Streubomben eingesetzt. Die 62-Jährige nimmt den Krieg wahr durch Sirenen, durch Explosionen und durch den Feuerschein der explodierenden Granaten, der durch das Kinderzimmer-Fenster dringt.
Die Familie schläft fortan im Keller der benachbarten Schule, tagsüber geht Valentina weiterhin zur Arbeit. Aber am 5. März habe ihr Sohn gesagt, nimm den Enkel und fahr weg. Ihre Flucht beginnt mit Chaos am Bahnhof. Die Menschen drängen in die Züge Richtung Westen, die Kinder schreien. Hauptsache weg. Sie hat nur einen Gedanken: „Den Enkelsohn retten.“
Drei Taschen mit Kleidung, dazu Dokumente
Drei Taschen mit Kleidung, dazu die Ausweisdokumente, sie nimmt nur das Nötigste mit. Sie fahren bis nach Lemberg im Westen der Ukraine. Am Bahnhof versuchen einige Menschen, Not zu Geld zu machen. Sie kassieren für den Transfer nach Polen, Valentina müsste etwa einen halben Monatslohn zahlen. Aber Busse des Roten Kreuzes bringen sie kostenlos über die Grenze. Weiter nach Tschechien. Dort leben Valentina und ihr Enkel etwa einen Monat. In Deutschland erhofft sie sich jedoch bessere Perspektiven für ihren Enkel. Per Zug reisen sie nach Gießen, kommen in die Erstaufnahme für Flüchtlinge, werden von dort dem Lahn-Dill-Kreis zugewiesen, landen im „Ankunftszentrum“ in der Kestnerschule in Wetzlar und schließlich seit dem 21. Juli im Containerdorf in Ballersbach.
Im Krieg brauchen wir was zu essen.
Oksana Bondarenko bleibt noch bis Juni in der Ukraine, sie hat aber ihre Sachen gepackt und ist hinausgezogen in ihre Datscha, außerhalb von Kiew. Es gibt dort Obstbäume, und auf einem Nachbargrundstück pflanzt sie unter anderem Kartoffeln und Karotten an. „Im Krieg brauchen wir was zu essen“, erklärt sie.
Der Krieg dringt bis in die Nähe der Datscha. 30 Kilometer entfernt hat die russische Armee den Flughafen besetzt, dort, wo in einem Hangar die Antonow 225 steht, das größte Flugzeug der Welt; die Bilder von dem zerstörten Flieger werden später im Fernsehen gezeigt. Und 15 Kilometer entfernt ist ein ukrainischer Militärstützpunkt. Sie sieht Drohnen, die die Gegend auskundschaften, und sie sieht russische Flugzeuge, die Granaten abwerfen, „jeden Morgen zur gleichen Zeit“. „Ich habe im Garten gearbeitet, und die Raketen sind über mich hinweggeflogen“, erzählt Oksana. Sie habe dennoch weitergearbeitet. „Im Krieg braucht man ja Essen.“
Als das russische Militär auch diesen Stützpunkt vernichtet habe und die Wälder ringsum gebrannt hätten, entscheidet ihre Tochter: Oksana solle gemeinsam mit der Enkelin flüchten. Die Tochter bleibt, sie ist Zahnärztin und hilft mit ihren medizinischen Fähigkeiten bei der Versorgung von Verletzten. Wehrfähige Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren dürfen ohnehin nicht ausreisen, in der Ukraine gilt Kriegsrecht.
36 Stunden Busfahrt nach Frankfurt
Die Tochter kauft Bus-Tickets. Abfahrt am 9. Juni, eine Direktverbindung von Kiew nach Frankfurt am Main, 36 Stunden Fahrt. Ein Koffer, eine Tasche und ein Rucksack: Klamotten, Papiere, die Vollmacht für die Enkeltochter und ein Kuscheltier. In den Messehallen in Frankfurt gibt es eine Notunterkunft für ukrainische Flüchtlinge. Es ist die erste Station für die 59-Jährige und ihre Enkelin, die zweite ist die Kestnerschule in Wetzlar, die dritte das Containerdorf in Ballersbach. Dort leben sie seit dem 5. August.
Oksana und Valentina seien hier so etwas wie die Hausmeister, erzählt Olga Grünert-Janzen. Sie ist DRK-Mitarbeiterin und die Sozialbetreuerin in der Flüchtlingsunterkunft. Sie sorgen für Ordnung und Sauberkeit, sie sortieren die Kleiderspenden, sie passen auf die kleinen Kinder auf, wenn Flüchtlingshelfer den Erwachsenen die deutsche Sprache beibringen. Und endlich dürfen sie wieder selbst Kochen. Im Ankunftszentrum in Wetzlar wurde das Essen geliefert.
Aber ihr Alltag ist nicht zu vergleichen mit dem in der Ukraine. „Dort habe ich gearbeitet und war immer in Bewegung, ich habe sehr gut gelebt“, sagt Oksana. Hier sei sehr viel Papierkram zu erledigen. Sie wollten auch hier arbeiten und dafür endlich die Integrationskurse besuchen, müssten aber warten.
Die Kreis-Volkshochschule organisiert diese Kurse. Vergangene Woche hat der Leiter der Kreispolitik berichtet: Bei den Integrationskursen werde die VHS überrannt. Und es sei unmöglich, neue Termine vor Mitte nächsten Jahres zu bekommen. Es fehle Lehrpersonal, die Qualifikationsanforderung durch das BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) seien hoch.
Weihnachtsbäume in den Metro-Stationen
Oksana erzählt: Letztens habe ihre Tochter geschrieben, dass sie den Weihnachtsbaum aufgestellt hat. „Aber jetzt liegen dort keine Geschenke mehr darunter.“ Sie tauschen sich per Handy-Botschaften aus, allerdings werde die Verbindung immer schlechter. In Kiew gebe es jetzt nur noch eine Stunde Strom am Tag. In Charkiw ständen wieder Weihnachtsbäume in den Metro-Stationen, sagt Valentina. Ihr Sohn habe davon am Telefon erzählt.
Oksana erinnert sich an das Weihnachtsfest vor dem Krieg. Sie sind orthodoxe Christen, bei ihnen feiert man Weihnachten am 6. Januar. Auf den Plätzen in Kiew hätten überall Weihnachtsbäume gestanden. Und Eisfiguren. Und es habe Eisflächen gegeben. Und sehr viel Weihnachtsbeleuchtung. Schnee habe gelegen. „Es war richtig schön, alles war geschmückt.“ Valentina berichtet: In ihrer Wohnung habe ein Tannenbaum gestanden, darunter die Geschenke, die Kinder hätten Lieder gesungen und Gedichte aufgesagt. Sie selbst habe eine goldene Halskette geschenkt bekommen. Familie und Essen.
Oksana und Valentina geraten ins Schwärmen, beim Thema Weihnachten sprudeln die Worte aus ihnen heraus. „Das war zu Hause“, sagt Oksana. „Zu Hause ist zu Hause“, fügt Valentina hinzu. „Dort sind die Kinder“, schließt Oksana.
Beim Thema Krieg sind die beiden Frauen deutlich wortkarger. Viele Nachfragen sind nötig. Sozialbetreuerin Olga Grünert-Janzen sagt: „Ich habe den Eindruck, das ist Selbstschutz und dass sie das Thema lieber mit sich selbst ausmachen.“ Und sie berichtet: „Die meisten Ukrainerinnen, die hierherkommen, meist Frauen mit kleinen Kindern, treten als starke Persönlichkeiten auf und meistern ihren Alltag.“
Er hat bis heute noch keine Einladung zur Schule.
Wie geht es weiter, was sind die Hoffnungen und Wünsche der beiden Frauen für die Zukunft? „Frieden. Dass der Krieg schnell beendet ist und dass die Kinder zu ihren Eltern zurückfinden“, sagt Oksana. Und: „Ich will nach Hause. Zu Hause ist es immer besser.“ Aber sie werde hierbleiben. Wegen ihrer Enkeltochter. Die 13-Jährige wolle hier in die Schule gehen, lernen und studieren. Auch Valentina berichtet, dass ihr Enkel in Deutschland lernen wolle. Dann atmet sie tief durch. „Er hat bis heute noch keine Einladung zur Schule.“