Weniger Essen, höhere Kosten, mehr Bedürftige: 2022 ist kein leichtes Jahr für die Tafeln gewesen. Und ob es in Zukunft besser wird, ist fraglich. So ist die Lage in Mittelhessen.
Mittelhessen. Die Tafeln stecken in einem Dilemma. Vor 30 Jahren wurden sie mit der Vision gegründet, Lebensmittel vor der Mülltonne zu bewahren. Doch nun, da Supermärkte immer genauer kalkulieren, wie viel Ware sie eigentlich brauchen, kommt auch weniger bei den Tafeln an. Das Essen landet zwar nicht mehr im Müll. Aber auch nicht mehr auf den Tellern von Bedürftigen. Und ihre Zahl ist gewachsen. Das Jahr 2022 war für die Tafeln hart. Ob sich das so schnell ändert, ist fraglich.
Die Zahl der Bedürftigen nimmt zu
Ob in Weilburg, Wetzlar, Dillenburg, Biedenkopf oder Marburg: Die Tafeln spüren die gestiegene Belastung. Weniger Essen, höhere Kosten, mehr Bedürftige. Im vergangenen Jahr haben diese Tafeln insgesamt an die 5500 Menschen versorgt. Nun sind es etwa 8900. Willi Schmid, Vorsitzender der Tafel Hessen, hat im Oktober mitgeteilt, dass die hessischen Tafeln insgesamt seit Jahresbeginn etwa 35.000 neue Kunden aufgenommen haben. Circa 25.000 von ihnen kommen aus der Ukraine. Es sind aber nicht nur Geflüchtete, die Hilfe brauchen.
„Bei vielen reicht es hinten und vorne nicht mehr“, berichtet Bianca Denkmann, Koordinatorin der Dillenburger Tafel. Obwohl die Inflation im November wieder etwas gesunken ist, ist sie – zumindest für deutsche Verhältnisse – weiterhin hoch. Lebensmittel sind teurer geworden. Rentner, Arbeitslose und Asylbewerber spüren das besonders stark. „Die Ärmsten trifft es zuerst“, sagt Martin Debus, ehrenamtlicher Leiter der Tafel Dillenburg.
Die mittelhessischen Tafeln gehen unterschiedlich mit der gestiegenen Zahl an Bedürftigen um. Anders als viele Tafeln in Hessen hat die Wetzlarer Tafel noch keinen Aufnahmestopp für Neukunden verhängt. Die Zahl der Wetzlarer Tafelkunden hat sich von knapp 2000 im vergangenen Jahr auf nun etwa 3600 erhöht. Auch deshalb ist das Gewicht eines Korbs, den die Bedürftigen bei der Wetzlarer Tafel bekommen, gesunken. Im Januar waren es noch durchschnittlich 16 Kilogramm, im Oktober neun, berichtet Tafelleiter Christof Mayer.
Die Tafeln in Biedenkopf und Marburg versorgen ebenfalls deutlich mehr Menschen. Helmut Kretz, Vorsitzender der Biedenkopfer Tafel, berichtet, dass sie zu Jahresbeginn noch etwa 560 Kunden hatte. Mittlerweile sind es um die 900. In Marburg schätzt Tafel-Vorsitzende Rita Vaupel die Kundezahl fürs vergangene Jahr auf 1600 bis 1800. Inzwischen sind es circa 3000.
Bei vielen reicht es hinten und vorne nicht mehr.
Bei der Dillenburger Tafel dürfte die Zahl der Kunden bald ähnlich stark steigen. Derzeit versorgt sie etwa 850 Menschen. Ihre Kundenzahl ist bisher nicht groß gewachsen. Doch die Tafel plant fürs neue Jahr eine Umstrukturierung. Sie hat eine Warteliste. „Eine ganz, ganz lange“, sagt Debus. Aktuell umfasst sie mehr als 800 Menschen – und auch die sollen etwas bekommen. Die Dillenburger Tafel will sie im nächsten Jahr zusätzlich zu den bestehenden Kunden aufnehmen. Die Kundenzahl dürfte sich also ungefähr verdoppeln – und somit die Menge der Lebensmittel, die jeder bekommt, in etwa halbieren, befürchten die Dillenburger Tafel-Mitarbeiter.
Die Weilburger Tafel verfolgt eine andere Strategie. Sie will nicht, dass ihre etwa 500 Bestandskunden deutlich weniger bekommen. Es gehe auch darum, den sozialen Frieden zu wahren, sagt die Vorsitzende Susanne Artner-Stehr. „Wir können nicht auf einen Schlag 300 Menschen mehr versorgen.“ Also hat die Tafel einen Aufnahmestopp verhängt. „Wir bräuchten viel mehr Lebensmittel, um alle gerecht zu versorgen“, sagt die Vorsitzende.
Die Lebensmittelspenden nehmen ab
Im Vergleich zum vergangenen Jahr haben die Lebensmittelspenden bei den hessischen Tafeln um etwa 30 Prozent abgenommen, berichtet Tafel-Hessen-Vorsitzender Schmid. Geschäfte würden wegen der Lagerkosten weniger Lebensmittel einkaufen, die sie dann den Tafeln überlassen können. Angebote wie die Reduzierung von Waren, die bald ablaufen, oder Foodsharing-Apps trügen weiter dazu bei, dass weniger Lebensmittel bei den Tafeln landen. Auch Debus sagt: „Es ist wesentlich weniger, was wir von den Geschäften bekommen.“ Manche spenden auch gar nichts.
Wir bräuchten viel mehr Lebensmittel, um alle gerecht zu versorgen.
Um etwas gegen diese Knappheit zu tun, hat der hessische Landesverband seinen Tafeln erlaubt, von Spendengeldern Lebensmittel zu kaufen. „Nur so kommen wir durch den Winter“, sagt die Vorsitzende der Weilburger Tafel. Sie hofft, dass diese Erlaubnis auch 2023 bestehen bleibt. Das sei derzeit nötig, um die Menschen zu versorgen. Gleichzeitig will Artner-Stehr aber auch nicht, dass das zum Dauerzustand wird. Schließlich wurden die Tafeln gegründet, um Lebensmittel zu retten, nicht um sie zu kaufen.
Die Energiekosten steigen
Auch das Land Hessen hat die angespannte Situation der Tafeln erkannt. Das Sozialministerium hat der Hilfsorganisation insgesamt 2,2 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Diese Soforthilfe habe verhindert, dass in Hessen Tafeln schließen mussten, ist sich Schmid sicher. Denn: Auch wenn die meisten Tafel-Mitarbeiter ehrenamtlich tätig sind, umsonst ist der Betrieb einer Tafel nicht. Besonders die Kosten für Energie sind gestiegen. Bei den hessischen Tafeln um mehr als 100 Prozent, hat eine Umfrage des Landesverbands ergeben. Der Preisanstieg belastet auch die Kunden.
„Wenn die Nebenkostenabrechnungen kommen, wird es nicht besser werden. Das ist erst der Anfang“, sagt die Dillenburger Tafel-Koordinatorin Denkmann. Sie befürchtet, dass auch Menschen, die bisher nicht als bedürftig galten, im nächsten Jahr Probleme kriegen könnten – etwa wegen gestiegener Heizkosten. Es dürfte nicht leichter werden. Aber: „Unser Anspruch ist, dass wir da eine Lösung finden”, sagt Artner-Stehr. Die Tafeln geben nicht auf. Denn aus der Vision, Lebensmittel vor der Mülltonne zu bewahren, ist längst die Mission geworden, Menschen in Not zu helfen.