Ernährungsarmut: Wer ist verantwortlich?

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„Es ist ja auch eine Frage der Würde, wenn ich mich in der Schlange anstellen muss und sagen muss, dass ich eine bedürftige Person bin“, sagt Prof. Stefan Wahlen. Wie hier Menschen, die in Darmstadt an der Tafel anstehen, um dort Lebensmittel zu erhalten.

Professor Stefan Wahlen von der Uni Gießen spricht im Interview über die Existenzberechtigung der Tafeln und darüber, wer von Ernährungsarmut am stärksten betroffen ist.

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Wetzlar/Giessen. Für Professor Stefan Wahlen ist die Sachlage beruflicher Alltag. Der Wissenschaftler forscht an der Justus-Liebig-Universität Gießen zum Thema Ernährungsarmut und hat sich mit der Situation der Tafeln bereits häufiger auseinandergesetzt. Im Interview spricht er über die Frage der politischen Verantwortung, über die Existenzberechtigung der Tafeln und darüber, wer von Ernährungsarmut am stärksten betroffen ist.

Herr Wahlen, sollte es Ihrer Meinung nach überhaupt die Aufgabe von Ehrenamtlichen sein, andere Menschen mit Lebensmitteln zu versorgen, oder ist das nicht eher in der Verantwortung des Staates zu verorten?

Das ist eine sehr gute Frage, aber ich muss Sie leider direkt am Anfang enttäuschen, denn: Es ist eine schwierige. Es ist eine berechtigte Fragestellung, wenn man bedenkt, dass wir heute einen Wohlfahrtsstaat gewohnt sind. Dieser übernimmt eine ganze Reihe von Aufgaben. Von daher ist es wichtig, sich die Historie anzusehen und sich zu fragen: Wie kommt es dazu, dass Ehrenamtliche sich engagieren, um Menschen mit Essen zu versorgen. Wenn wir ein paar Jahrhunderte zurückgehen, dann lag die Verantwortung für die Versorgung bei kleinen Gemeinschaften. Wir leben aber nicht mehr in diesen Strukturen, sondern wir leben in einer Welt, die durch ökonomische Strukturen geprägt ist, etwa durch ein globales Ernährungssystem. Durch dieses haben sich Abhängigkeiten geschaffen, aber garantieren im Umkehrschluss auch eine Versorgungssicherheit. Auf der einen Seite müssen wir auf globale Lebensmittelwertschöpfungsketten zurückgreifen, um uns zu versorgen. Auf der anderen Seite werden wir dadurch ausreichend ernährt. Bei den Tafeln kommt noch die Konnotation hinzu, dass dort übrig gebliebene Lebensmittel verteilt werden. Damit verbunden ist dann eine gesellschaftliche Frage, ob der Staat die Versorgung übernimmt oder nicht. In einem spätkapitalistischen System, wie wir in einem leben, ist es so geregelt, dass der Staat Menschen Geld gibt, um sich adäquat zu versorgen. Die Frage ist: Reicht das Geld aus? Ich würde es nicht als ein staatliches Versagen sehen, sondern vielmehr die Frage sehen: Bei wem liegt eigentlich die Verantwortung für die Versorgung?

Wir leben in einem liberalen Wirtschaftssystem und da wird davon ausgegangen, dass die Verantwortung für die Versorgung bei den Individuen liegt. 

Prof. Dr. Stefan Wahlen Ernährungssoziologe, JLU Gießen

Wenn wir davon ausgehen, dass der Staat für die Versorgung verantwortlich ist, gibt es dann Möglichkeiten, so etwas wie „staatliche Tafeln“ mit einer zentralen Versorgung einzuführen? Ein Beispiel, wo der Staat das übernimmt, wäre Kuba. 

Wie ich schon gesagt habe, leben wir in einem spätkapitalistischen System. Die krasse Ausprägung des Systems sieht man in den Vereinigten Staaten, wo sich der Staat weit zurückgezogen hat, wie etwa auch in Großbritannien. Aus der liberalen Perspektive geht es dort darum, die Verantwortung bei den Akteuren zu suchen, beispielsweise wirtschaftliche Akteure wie Unternehmen, aber auch bei Konsumierenden. Wir leben in einem liberalen Wirtschaftssystem und da wird davon ausgegangen, dass die Verantwortung für die Versorgung bei den Individuen liegt. Wenn Sie Kuba als Beispiel nennen, wo andere – kollektive – Versorgungsstrukturen vorherrschen, dann sagt der Staat dort: Es gibt kollektive Versorgungsmöglichkeiten. Dann muss man zwischen Modellen wählen. Wir haben in Deutschland eine Verfassung und eine soziale Marktwirtschaft. Es ist spannend, das in einem europäischen Vergleich zu sehen. Die skandinavischen Staaten fahren nach einem Modell des Wohlfahrtsstaates. Das haben wir in Deutschland teilweise auch implementiert. Wenn Menschen hier bei uns unverschuldet in unerwünschte Situationen geraten, dass sie sich nicht adäquat versorgen können, springt der Staat ein. Die Frage ist: Welche Optionen hat man da? Muss es eine Tafel sein, wo man im Prinzip als Bittsteller hingeht? Es ist ja auch eine Frage der Würde, wenn ich mich in der Schlange anstellen muss und sagen muss, dass ich eine bedürftige Person bin. Es kann nicht sein, dass die aussortierten Lebensmittel per Verteiler dauerhaft und adäquat die Ernährung gewährleisten sollen. Es ist die Frage: Will der Staat mehr ausgeben? Das führt zu einer gesellschaftlichen Debatte, ob das dann auch getragen wird.

Frankreich hat ein Gesetz gegen Verschwendung erlassen. Die Lebensmittel müssen dort an die Tafeln gehen, anstatt weggeworfen zu werden. Wäre das auch ein Weg für Deutschland?

Die Unternehmen und Supermärkte machen das auch schon zum Teil. Nur da kommt man sehr schnell an Grenzen. Die Lebensmittel, die über die Tafeln abgegeben werden können, müssen auch haltbar sein. Das sind auch die Zielkonflikte im Rahmen politischer Maßnahmen. Auf der einen Seite haben wir die Sozialgesetzgebung, die sagt, dass die Menschen unterstützt werden. Auf der anderen Seite haben wir eine Lebensmittelgesetzgebung, wo es darum geht, Lebensmittel anzubieten, die unversehrt sind. Die Frage ist: Welche Konflikte geht man an? Den Konflikt, die Menschen adäquat zu versorgen oder der Konflikt, dass die Lebensmittel, die die Menschen zu sich nehmen, noch das Mindesthaltbarkeitsdatum erfüllen, wenn die Menschen diese von der Tafel abholen. 

Wenn wir über das Thema Ernährungsarmut sprechen, welche Altersgruppen sind denn besonders davon betroffen?

Es ist nicht nur das Einkommen, das eine Rolle spielt. Es ist oft auch sehr stark mit dem Bildungsgrad verbunden. Ich will nicht sagen, dass Menschen mit einem niedrigeren Bildungsgrad sich schlechter versorgen, aber die Höhe des Einkommens korreliert mit der Höhe der Bildung. Mit einem höheren Bildungsabschluss habe ich in der Regel einen besser bezahlten Job. Es sind in der Regel jüngere Menschen. Studierende beispielsweise. Und ältere Menschen, die in einem Ruhestandsalter sind und dadurch weniger verdienen. Wir sehen aber auch, dass Alleinerziehende mehr Probleme haben als Familien mit mehreren Einkommen. Das sind klassische Gruppen, die eher davon betroffen sind als Menschen mit einem hohen Einkommen.

Die derzeitige Inflation ist auch ein großes Thema, da sich Menschen weniger leisten können. Können wir bereits absehen, wie gravierend die derzeitige Inflation die Ernährungsarmut in Deutschland beeinflussen wird?

Man sieht momentan Verschiebungen. Verschiebungen zwischen verschiedenen Märkten und Wegen, um an Lebensmittel zu gelangen. Vielleicht gehe ich nicht mehr in den klassischen Vollsortimentsupermarkt, sondern gehe eher zum Discounter. Oder ich verzichte in erster Instanz auf Markenprodukte und steige auf Eigenmarken der Supermarktketten um. Hier sehen wir auch, dass die Supermarktketten reagieren und die Preise für Eigenmarken überproportional steigen. Das sehen wir aber auch im Biobereich. Biologische Produkte werden überdurchschnittlich von Konsumierenden mit hohem Einkommen und hoher Bildung verzehrt. Es gibt auch eine Verschiebung von Spezialitätengeschäften hin zu Supermärkten oder Discountern. Das ist eine superspannende Sache. Es wird nicht weniger gekauft, es wird auf anderen Wegen gekauft. Es gibt deutliche Verschiebungen bei der Frage, was gekauft wird. Wenn der Betrag der Gleiche bleibt, die Lebensmittel aber teurer werden, muss ich schauen, welche Lebensmittel ich dafür besorgen kann. Da wird man wahrscheinlich eher auf einige Luxusprodukte verzichten. Aber ich denke auch, dass Menschen mit entsprechenden Einkommen sich wenig daran orientieren und trotzdem die Produkte verzehren.

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