Franks drei Minuten: Es ist nicht jeder zum Diogenes geboren

Unser Kolumnist Frank Mignon. Foto/Montage: Mignon/Sonneborn-Stahl

Unser Kolumnist Frank Mignon hat sich den Rat einer Wirtschaftsjournalistin, die fordert wie 1978 zu leben, zu Herzen genommen und fragt, wie er damals gelebt hat.

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Wetzlar. Immer wenn Ulrike Herrmann etwas sagt, höre ich gerne zu. Die Wirtschaftsjournalistin der taz hat Ahnung, äußert auf Wunsch auch mal eine Meinung und ist im besten Sinne unbestechlich im Denken. Umso mehr musste ich aufhorchen, als sie unsere wirtschaftliche Zukunft in etwa so beschrieb: „Wir können eine Klima-neutrale Wirtschaft nicht mit Wachstum, sondern nur durch Schrumpfen erreichen. Wir müssen in etwa so leben wie im Jahr 1978“.

Auch wenn sie das vermutlich nur im Sinne des Lebensstandards meint, so drängt sich mir dann doch die Versuchung auf, mich selbst noch einmal in die Zeit zurückzuversetzen. Ich war im Jahr 1978 acht Jahre alt. Mein Leben war nicht schlecht, allerdings vor allem deshalb, weil ich nicht allzu viele Vergleichsmöglichkeiten hatte. Nach heutigen Maßstäben waren wir arm und ich konnte nur durch die Zuschüsse meiner Großmütter Segnungen wie Musikunterricht, ein neues Fahrrad oder Kleidung erhalten, denn meine Eltern lebten getrennt und Mutter verdiente mit Änderungsschneidereien ihr Geld.

In unserer 54-Quadratmeter-Wohnung gab es keine Heizung, im Wohnzimmer verbreitete ein Ölofen sein berauschendes Geruchsambiente und in der Küche sorgte ein Kohleherd dafür, dass man nicht nur Essen zubereiten konnte, sondern zusätzlich durch die Abwärme die Wand zu meinem kleinen Kinderzimmer ein wenig warm wurde, was dennoch den Anblick der Eisblumen am Fenster im Winter nicht verhindern konnte, gegen die meine Mutter immer mit zusammengerollten Decken auf dem Fensterbrett ankämpfte. Verreist sind wir mit dem Gimmler-Bus oder mit den „Ameropa“-Angeboten der Bundesbahn, Sonntagsausflüge führten an die Lahn oder auf den Simberg und einmal im Jahr ging es mit den Sonderzügen der Bahn für die Angehörigen und Witwen der Bundespost in deutsche Städte. Ich erinnere mich noch an eine Fahrt nach Eltville am Rhein, die meine Oma besonders anpries, weil ihr der französisch klingende Ortsname so schön vornehm erschien, was dazu führte, dass ich nach dieser Tagesfahrt den Eindruck hatte, nun auch nicht mehr nach Monaco zu müssen, da ich ja schon allen Luxus gesehen hatte.

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Wir hatten kein Auto, das heißt, mein Vater hatte schon eins, aber in dies stieg ich nur dann ein, wenn er mich mal abholte. Der homosexuelle alte Mann in der Nachbarschaft wurde noch „der 175er“ genannt und Türken mussten ertragen, dass man sie „Kanaken“ rief, obwohl auf dem Auto der Aufkleber „Mach meinen Kumpel nicht an“ klebte, den SPD und Gewerkschaften gegen Ausländerfeindlichkeit verteilten. Wir wussten genau, was gemeint war, wenn es hieß, dass irgendwo ein Vater mal wieder „die Möbel gerückt habe“. Dies war ein anderes Wort für: Es gab Schläge für Frau und Kind und es wurden Einrichtungsgegenstände zertrümmert, meist im Suff, denn die Papas arbeiteten hart in der Industrie, während Mutti nicht etwa, wie in den bürgerlichen Familien, zu Hause blieb, sondern an der Kasse eines dieser neuen Supermärkte oder stundenweise im Gemeindebüro saß, sofern sie die notwendige Bildung hatte. Denn ansonsten hieß es „Putzen“.

Wer diese Zeit erlebt hat, der zögert zumindest ein wenig, wenn wir nun tatsächlich über „Verzicht“ reden und uns schrumpfen sollen. Denn so sehr man Mobilität, günstiges Fliegen und eine vernetze Welt auch im Hinblick auf Ökologie kritisieren kann, man sollte immer auch berücksichtigen, dass Reisen auch Horizonte öffnet, Vorurteile und Hass abbauen kann und Grenzen in den Köpfen überwindet. Sogar in unseren sehr beschränkten Verhältnissen hat meine Oma immer dafür gesorgt, dass mindestens einmal im Jahr verreist wurde und ich durfte sogar einmal nach Holland, nach Österreich und sogar als Höhepunkt an den Luganer See in die Schweiz, womit sich Oma einen Lebenstraum erfüllte. Was meinen Sie, wie groß mein Schreibhorizont geworden wäre, wenn ich ferne Länder besucht hätte und nicht nur den Schliersee und das Taunus-Wunderland. Aber ist nicht vielleicht auch ein Grund, warum so viele der heutigen Anhänger des „Verzichts“ die Fernreisen anprangern, die Tatsache, dass sie selbst schon so ziemlich alles gesehen haben? Ich war nur einmal auf einem anderen Kontinent, nämlich in Amerika, genauer: In New York. Und dieser Besuch vor 23 Jahren hat mein Weltbild nochmal kräftig erweitert.

Dieses Durcheinander, diese vielen Nationen, die vielen Sprachen und die daraus resultierenden vielen englischen Akzente haben mir Horizonte eröffnet. Deshalb: Ihr könnt von mir aus alles schrumpfen und mich zum Verzicht bewegen, ich habe davor keine Angst, denn ich bin seit Kindertagen darin geübt, mit wenig klarzukommen. Aber nehmt nicht den jungen Leuten das Erleben der Welt, will sagen: Macht die Welt nicht kleiner, denn eine gute Weltanschauung sollte auch darauf setzen, dass man sich die Welt anschauen kann. Es ist nicht jeder zum Diogenes geboren, egal, ob die Tonne WLAN hat oder nicht.