
Gasnotstand, Stromausfall oder Angriff auf Kritische Infrastruktur: Wie ist Wetzlar auf die Situation vorbereitet? Wir haben nachgefragt.
Wetzlar. Der Krisenstab im Rathaus bekommt keine Pause. Kaum hatte die Pandemie ihren Schrecken verloren, da brach der russische Präsident einen Krieg vom Zaun und ein Flüchtlingsstrom setzte ein. Und nun besteht die Angst vor Engpässen bei der Energie. Der Krise folgt die Krise folgt die Krise. Wie bereitet sich die Stadt auf den Ernstfall vor? Was tun bei Gasnotstand, Stromausfall oder Angriff auf Kritische Infrastruktur?
Welche Bereiche der Kritischen Infrastruktur fallen in die Zuständigkeit der Stadt und wie werden sie geschützt?
Im Krisenfall soll die Verwaltung weiter arbeiten können – jedenfalls die Kernbereiche. Sie soll außerdem für die Bürger erreichbar sein. Im Krisenstab wurden dazu Kernprozesse identifiziert. „Wir schauen, dass die Räume im Rathaus nutzbar sind, eine Datenanbindung und Strom haben“, erklärt Boris Falkenberg, Leiter des Stabes für außergewöhnliche Ereignisse. Server, Verteilerschränke und Telefonanlage haben eine unterbrechungsfreie Stromversorgung, die kurzfristige Ausfälle kompensiert. Sollte der Strom länger ausfallen, übernimmt ein Notstromaggregat. Um unabhängig von Mobilfunk und Telefonnetz zu sein, prüft die Stadt derzeit den Einsatz einer Datenverbindung via Satellit. Für Notfälle steht das Digitalfunknetz Tetra zur Verfügung, über das auch Polizei, Rettungsdienste und Feuerwehr kommunizieren. Es besitzt eine Notstromversorgung.
Ein Fokus des Krisenstabes liegt auf der Ver- und Entsorgung. Bestehende Notfallpläne der Abwasserentsorgung werden überprüft, die Notstromversorgung getestet. Die Stadt legt eine zentrale Kraftstoffreserve an, um Aggregate und Fahrzeuge zu versorgen, zum Beispiel für Stadtpolizei, Feuerwehr und Stadtreinigung. Die Müllabfuhr soll aufrecht erhalten werden, um Gesundheitsgefahren vorzubeugen. „Die Tankstelle ist mit Notstrom versorgt, damit sie bei einem Stromausfall funktioniert“, sagt OB Manfred Wagner (SPD). Der städtische Kraftstoffvorrat reicht für drei Wochen. Man sei auch darauf vorbereitet, die städtische Tankstelle gegen unbefugte Zugriffe zu schützen.
Auswirkungen hätte ein Blackout auch im Sozialwesen: Sozialhilfe oder Unterhaltsvorschuss zahlt die Stadt per Überweisung aus. Da bei einem Stromausfall keine Geldautomaten oder Kassen in Supermärkten funktionieren, prüft man im Rathaus gerade, wie viel Bargeld zur Auszahlung vorgehalten werden soll.
Von einem Gasmangel sofort betroffen wäre auch das Krematorium, das auch von umliegenden Gemeinden genutzt wird. Wagner: „Wir müssten bei einem längeren Ausfall auf Erdbestattungen ausweichen, um der Seuchengefahr zu begegnen. Auch wenn dies nicht der Wunsch des Verstorbenen oder seiner Angehörigen ist.“ Eine Kremierung lasse sich gegebenenfalls später nachholen. Eile wäre auch bei einem Stromausfall geboten, wenn Leichen nicht mehr gekühlt werden können.
Auch die Wasserversorgung wäre von einem Ausfall der Stromversorgung betroffen. Zwar fließt das Trinkwasser aus den Hochbehältern der Enwag durch das Gefälle zu den Kunden. In die Behälter wird es aber gepumpt. Für diese Pumpen halte die Enwag eine Notstromversorgung vor, berichtet Falkenberg. Sollte sie ausfallen, werden 27 städtische Notbrunnen von Mitgliedern der Feuerwehr in Betrieb gesetzt. „Es ist wichtig, dass die Brunnen mit Personal besetzt sind, da man bei der Entnahme darauf achten muss, je zehn Liter Wasser eine Chlortablette hinzuzugeben.“
Wo spart die Stadt Wetzlar bereits Energie und kommen noch weitere Maßnahmen hinzu?
Schon umgesetzt oder angeordnet sind die Auflagen der Energiesparverordnungen des Bundes. Dazu zählt die Abschaltung der Beleuchtung von Baudenkmälern wie dem Wetzlarer Dom. Außenwerbung ist zu bestimmten Zeiten untersagt. In öffentlichen Gebäuden wurden Durchlauferhitzer abgeschaltet.
Hinzu kommen lokale Maßnahmen, mit denen die Verwaltung Energie sparen will, etwa die Absenkung der Temperatur im Europabad, in Sportstätten und kommunalen Einrichtungen. In den städtischen Gebäuden ist die Heizperiode später gestartet. Lüftungen wurden optimiert, Klimaanlagen abgeschaltet. Brunnen und Wasserspielen wurde der Stecker gezogen.
„Wir können als Stadt keine Maßnahmen vorgeben, die direkt auf private Endverbraucher zielen“, sagt Falkenberg. „Wir regeln den inneren Betrieb so, dass wir möglichst sparsam unterwegs sind.“ Exakt beziffern könne man die Einsparung nicht, weil es keine Vergleichszahlen gebe, ergänzt der OB. „Die Referenzwerte fehlen.“
Für Wagner ist wichtig, einerseits einen Beitrag zu leisten, andererseits aber das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten. „Nach Corona haben wir angefangen, Kinder und Jugendliche wieder zu erreichen. Das muss nun weitergehen. Wir versuchen zum Beispiel, das Hallenbad so lange als möglich am Netz zu halten.“ Eine Zahl hat der OB aber dann doch parat: 3300 Straßenleuchten in Wetzlar seien derzeit auf LED umgerüstet, rund 47 Prozent. „Es kommen in diesem Jahr aus dem Programm, das wir ohnehin vorhatten, noch einmal 600 hinzu.“ Zudem plant die Stadt, eine Informationsseite im Internet mit Energiespartipps und Hinweisen auf Förderprogramme für energetische Sanierungen freizuschalten.
Wie erfahre ich von einem Notfall, wenn Stromnetz, Mobilfunk oder Internet ausfallen?
Mobilfunksender sind mit einer Notstromversorgung ausgestattet, doch sie hält laut Falkenberg nur für vier bis sechs Stunden. Und dann? „Wir empfehlen der Bevölkerung, sich mit batteriebetriebenen oder Kurbel-Radios auszustatten.“ So lange der Mobilfunk funktioniere, seien Warnapps wie „Nina“ (siehe Kasten) eine gute Idee. Zudem soll in Wetzlar ein Netz aus Sirenen aufgebaut werden, die neben dem Warnton auch Durchsagen abspielen können. Bis es so weit ist, werden Durchsagen über Lautsprecheranlagen mit sieben Fahrzeugen der Feuerwehr gewährleistet. Feuerwehrgerätehäuser werden bei einem Blackout als Meldestellen für die Bevölkerung besetzt. Das Rathaus wird als Anlaufpunkt erhalten bleiben und für die Notdienste besetzt. Die Stadtteilbüros werden bei einem Ausfall von Strom und Internet geschlossen.
Wo werden Wärmeinseln eingerichtet? Wer darf unter welchen Bedingungen rein?
Die Standorte der sieben Wärmeinseln veröffentlicht die Stadt erst dann, wenn sie nötig werden. Bekannt sind bisher nur die Stadthalle und das Foyer der Buderus-Arena. Die Wärmeinseln dürfen von allen Wetzlarer Bürgern genutzt werden, um sich dort aufzuwärmen, wenn sie zu Hause oder in der Nachbarschaft keine alternativen Aufwärmmöglichkeiten finden. „Wir bitten alle Bürgerinnen und Bürger in einer solchen Situation um Nachbarschaftshilfe“, sagt Wagner. Denn es könne ja sein, dass das Gas nur in Teilen der Stadt ausfällt, Freunde oder Verwandte also weiterhin heizen können.
Die Wärmeinseln bieten Platz für 4000 Menschen. Vorgaben zu Dauer der Nutzung oder einer Rangfolge gibt es zunächst nicht. „Solange die Inseln nicht überrannt werden, wird es keine Limitierung geben“, bekräftigt Falkenberg. „Wenn es dazu kommt, dass sich Schlangen bilden, werden städtische Mitarbeiter vor Ort die Koordination übernehmen. Aber es wird an der Wärmeinsel niemand weggeschickt.“ Mit 4000 Plätzen sei ein ausreichendes Angebot vorgesehen, bekräftigt der Leiter des Krisenstabes. Die jüngste Statistik hatte knapp 9000 Privathaushalte mit Gasheizung ergeben. Essen oder Getränke gibt es in den Wärmeinseln nicht. Menschen, die strombetriebene Hilfsmittel wie Beatmungsgeräte benötigen, können deren Akkus in den Wärmeinseln laden. Denn dort werden auch Notstromaggregate laufen.
Erleben wir einen weiteren unruhigen Winter in Wetzlar?
Der Zulauf zu Demonstrationen, auch in Wetzlar, zeigt es: Stellenweise brodelt es in der Bevölkerung. Was kommt da noch auf uns zu, wenn es tatsächlich einen Blackout gibt? „Nach den Beschlüssen von Bund und Ländern ist klar, dass es Veränderungen bei der Energie gibt, dass wir aber noch ordentlich über diesen Winter kommen werden“, sagt OB Wagner. Zumal auch die Gasspeicher gerade sehr gut gefüllt seien. „Aber klar, es wird teurer für jeden von uns. Ob das zu Unruhen führt? Ich hoffe, dass dies nicht der Fall ist und dass die Menschen besonnen mit dieser Situation umgehen werden.“ Wagner bittet um einen Vertrauensvorschuss und um Verständnis für Politik und Verwaltung: „Hier gilt wie bei der Pandemie: Wir erleben das alles zum ersten Mal. Niemand zieht den Ordner aus dem Regal und hat den Masterplan in der Hand.“