
Bürgergeld, hohe Energiekosten: Für viele Tafel-Kunden ist das im Moment wichtiger als der Geist von Weihnachten. Die Bescherung kommt dann erst im neuen Jahr.
Wetzlar. Schokoladennikoläuse und Christstollen werden auf der Bahnhofs-Nordseite in Wetzlar erst nach Weihnachten erwartet. Und damit bei den Tafel-Kunden erst im Januar auf dem Tisch stehen. Das ist nicht ungewöhnlich. Lebensmittelhandel und -industrie liefern regelmäßig Ware ins Zentrallager der Hessischen Tafeln. Aber erst dann, wenn sie nicht mehr verkauft werden kann. Die Lebensmittelkörbe, die am Freitag für die letzte Ausgabe des Jahres gepackt wurden, enthielten daher eher keine adventliche Überraschung. Zumindest aber sind sie nicht noch weiter geschrumpft.
Gleichbleibende, tendenziell leicht zurückgehende Lebensmittelspenden, dazu viel mehr Kunden: Die Konsequenz dieser Entwicklung auf die Größe der Lebensmittelkörbe packt Christof Mayer in Zahlen. „Im Januar waren 16 Kilo im Korb, jetzt sind es neun Kilo.” In seiner Jahresstatistik kann der Leiter der Wetzlarer Tafel diesen Effekt direkt dem russischen Angriffskrieg zuordnen. Bis Kalenderwoche acht, als der Krieg begann, verharrte die Zahl der ausgegebenen Lebensmittelkörbe recht stabil bei um die 700. Dann schlug Putin los, und seither geht die Kurve mit wenigen Unterbrechungen nach oben. Fast 45.000 Körbe sind in diesem Jahr bisher abgeholt worden, fast 10.00 mehr als 2022.
Wegen Weihnachten fallen die Körbe nicht größer aus
Wesentlich mehr dürften nicht hinzukommen, denn die Wetzlarer Tafel hat zwischen den Jahren geschlossen. Nach der letzten Ausgabe am Freitag wird erst am 3. Januar wieder geöffnet. Da die Tafel immer die Lebensmittel verteilt, die aktuell gespendet werden, fallen die „Weihnachtskörbe” nicht größer aus als alle anderen: Die Spendenmenge bestimmt, was bei den Kunden ankommt. „Unsere Kunden müssen sich über Weihnachten eben ein wenig einschränken”, stellt Mayer fest. Und: Sie tun das auch ohne Murren. „Ich habe noch keine Beschwerden über unsere Weihnachtspause gehört”, sagt der Diakon. Sie diene vor allem dazu, den Mitarbeitenden mal Ruhe zu gönnen. Von Weihnachten abgesehen ist die Tafel durchgehend geöffnet.
Szenenwechsel: In der Ausgabestelle in Niedergirmes sind die Türen noch zu. Doch die Warteschlange ist schon gewaltig. In wenigen Minuten werden Teamleiter Uwe Schwarz und seine Mitarbeiter öffnen. Während die Kunden draußen warten, werden drinnen vier Sorten Lebensmittelkörbe gepackt: für Singles, Paare, Großfamilien und Muslime. „Wir haben aktuell viel zu tun, die Leute laufen echt am Limit”, sagt Schwarz über seine Mitarbeiter. „Die vergangenen Wochen waren extrem, es hat sich aber grundsätzlich nichts geändert. Es kommen viele Kunden und wenig Ware.” Zwei stabilisierende Faktoren hat Schwarz ausgemacht: Zuletzt sei die Zahl der Neuanträge gesunken. Und: Im Advent erlebt die Tafel traditionell mehr private Spenden. „Erst gestern war eine Frau hier, die hatte für 250 Euro eingekauft und hat uns dann ihre Einkäufe vorbeigebracht.” Immer wieder melden sich private Spender, berichtet Schwarz. „Sie fragen, was sie einkaufen sollen, was wir brauchen.”
Von seinen Kunden ist der Teamleiter begeistert. „Die Leute sind friedlich und unterstützen sich. Es wird zum Beispiel gegenseitig übersetzt.” Auch Wartezeiten und die seit Jahresbeginn stetig geschrumpften Körbe würden akzeptiert. Eine Stellschraube hat die Tafel noch: Seit April erhalten alle Neukunden nur noch einen Lebensmittelkorb pro Woche, zuvor waren es zwei. Die Bestandskunden haben dieses „Privileg” bisher auch behalten. „Weil wir nur verteilen, was wir gespendet bekommen, mussten wir bisher keinen Aufnahmestopp aussprechen”, erklärt der Diakon. Den gebe es erst, wenn die Lebensmittelmenge pro Korb allzu winzig werde. „Vor einem Aufnahmestopp hätten wir noch die Möglichkeit, alle Kunden auf nur eine Abholung pro Woche zu setzen. Das schien uns bisher aber zu drastisch.”
Aktuell sind unter den Tafelkunden vor allem die Reformen im Sozialbereich ein Thema - Stichwort Bürgergeld. „Die meisten Kunden sagen: Es ist Augenwischerei”, berichtet Schwarz. „Es ist das Gleiche mit 50 Euro mehr.” Solche Einschätzungen hört auch Mayer immer wieder. Neuer Name, mehr nicht? Das sieht der Diakon anders. „Leider ist im Vermittlungsausschuss vieles eingedampft worden. Aber ich finde den grundsätzlichen Ansatz, Leute nachhaltig zu fördern, sehr gut. Bisher ging es ja vor allem darum, die Menschen möglichst schnell irgendwo unterzubringen, auch wenn es nicht nachhaltig war.” Die Vermeidung des sogenannten Drehtür-Effekts, bei dem Langzeitarbeitslose nach sechs Monaten wieder beim Jobcenter vor der Tür stehen, wird als ein Grund für die Einführung des Bürgergeldes genannt. Langzeitarbeitslose sollen künftig besser qualifiziert werden, um auf dem Arbeitsmarkt dauerhaft Fuß zu fassen. „Ich finde es gut, wenn die Menschen nun wirklich eine Perspektive bekommen”, sagt Mayer.
Bürgergeld, Energiepreise - bleibt da Zeit für Weihnachtsstimmung? Schließlich wird die Tafel von der evangelischen Kirchengemeinde getragen. „Soweit ich das beurteilen kann, kommen die Menschen, weil sie bedürftig sind. Punkt”, sagt der Tafel-Leiter. „Die Kunden wissen, dass Kirche das macht. Was sie daraus machen, liegt aber in ihrer Hand. Ich persönlich fände es auch unangebracht, von unserer Seite religiöse Dinge weiterzugeben. Wir haben viele Muslime und andere Konfessionen.” Uwe Schwarz kann das bestätigen. „Über Weihnachten spricht niemand. Für die Leute zählen im Moment vor allem die hohen Strom- und Gaspreise. Weihnachtliche Stimmung ist nicht zu spüren. Ich glaube, die Sorgen über das kommende Jahr sind größer.”