Wo der Narr zum Weisen wird

Am Anfang ist die Welt noch in Ordnung: Der Graf knipst den König und seine Töchter – was in Zeiten von Shakespeare wohl eher ein Maler erledigt hätte.   Foto: Berns
© Berns

Weder spielten bärtige Frauen, noch Bärtige Frauen. Anlässlich des 400. Todestags von William Shakespeare hatte das Globe Theater 2016 aber beschlossen, „King Lear“ wie...

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Wetzlar. Weder spielten bärtige Frauen, noch Bärtige Frauen. Anlässlich des 400. Todestags von William Shakespeare hatte das Globe Theater 2016 aber beschlossen, „King Lear“ wie einst der Meister selbst, in einer All-Male-Besetzung zu spielen.

Das Wetzlarer Publikum kam nun im Rahmen der Festspiele in den Genuss der Aufführung, die an längst vergessene Theatertradition anknüpft. Sogar das Ambiente hätte ähnlich sein können wie einst im 17. Jahrhundert, als die oft arenagleichen, elisabethanischen Theaterbauten die Zuschauer anlockten – im Rosengärtchen natürlich mit einer besonderen Atmosphäre. Doch das Wetter spielte nicht mit, und so wurde „King Lear“ in die Stadthalle verlegt, was sich ein wenig auf die Wirkung des Stückes niederschlug. Dieses folgte in weiten Teilen dem Original. Die Macher hatten allerdings auf ein größeres Maß an Unterhaltung gesetzt.

Doch zunächst zum Schauspiel an sich: Hier lässt sich sagen, dass die Darsteller durch die Bank überzeugten. Großartig spielte Andreas Erfurth den alternden König. Ob cholerische Wutausbrüche, herrisches Gebaren, Verzweiflung, Trauer oder fast komisch anmutender Wahnsinn, Erfurth durchlebte und verkörperte sämtliche Gefühlsregungen mit Brillanz. Auch die drei Akteure, die in Frauenrollen auftraten, taten dies einfach großartig. Besonders Sebastian Bischoff verkörperte die Regan so realistisch, dass man wirklich glauben konnte, ein weibliches Wesen vor sich zu haben. Sebastian Zumpe, der die Goneril gab, tat sich in der Frauenrolle schon etwas schwerer, wirkte oftmals eher wie ein zorniger Jüngling und dennoch war seine Interpretation der Figur gelungen.

Kilian Löttker, der als Cordelia wenig Bühnenpräsenz hatte, konnte hauptsächlich in seiner zweiten Rolle, dem Narren begeistern.

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Die Figur war natürlich auch großartig konzeptioniert, hielt in der klassischen Narrenart den Akteuren wie dem Publikum den Spiegel vors Gesicht. Und wie so oft offenbarte sich auch hier die ganze Tiefgründigkeit und Weisheit der Handlung im Närrischen. Beispielsweise wenn der Narr erklärte, dass derjenige, der alt wird ohne weise geworden zu sein, eben vor seiner Zeit gealtert ist.

Die derben Einlagen, wie das Vorzeigen 
von Fake-Genitalien, sind und bleiben Geschmackssache

Hier schloss sich auch der Kreis zum König Lear, der in seiner Raserei und angesichts des Verrats seiner Töchter Goneril und Regan langsam dem Wahnsinn verfällt und sich schließlich selbst zum Narren macht.

Ebenfalls mit ihrer schauspielerischen Leistung begeisterten Till Artur Priebe als intriganter Bruder oder Marius Marx in der Rolle des Grafen Gloster sowie Dierk Prawdzik, der den treuen Begleiter des Königs, den Grafen Kent einfach grandios verkörperte.

Die Handlung, eigentlich eine Tragödie und immerhin drei Stunden lang, hatten Regisseur Kai Frederic Schrickel und sein Team durch einige Modernisierungen und amüsante Einlagen aufgelockert. In weiten Teilen gelang dies gut, beispielsweise wenn der Narr plötzlich als eine Schlaflied singende Traumfee erschien. Oder der König den als Bettler verkleideten Kent fragt: „Hast du auch alles deinen Töchtern gegeben?“

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Die an das Theater zu Shakespeares Zeit angelehnten, derben Einlagen, wie das Vorzeigen von Fake-Genitalien oder echten, blanken Rückseiten, sind und bleiben Geschmackssache. Wiederum andere Szenen, wie das an schlechte Horrorfilme erinnernde Verspeisen von Augäpfeln des Gegners (deutlich nur gespielt) führten die Tragödie bisweilen durch ungewollte Komik fast schon ad absurdum. Und bei den zotigen mit vielen Fäkalausdrücken gespickten Ausbrüchen von König Lear und Graf Kent hätte man sich bisweilen etwas weniger Schimpf und Schande gewünscht. Nicht ganz zu verstehen war zudem, warum die Protagonisten bisweilen in eine Art norddeutsche Mundart verfielen. Und somit war „King Lear“, alles in allem, eine durchweg gelungene Aufführung, die keinesfalls langweilig war und bei passendem Wetter ein Sommernachtstraum hätte werden können.