Gutenberg war auch Pate der Hassrede

Illustration: Folker Gratz, Marta Sher – stock.adobe; Bearbeitung: VRM

Die erste Medienrevolution war mitnichten nur der Ausgangspunkt für die Explosion des Wissens und die Aufklärung.

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MAINZ. Bei der Verleihung des Gutenberg-Recherchepreises U35 an junge Journalistinnen und Journalisten zog Gastredner Ralph Bollmann Parallelen zwischen der ersten Medienrevolution und der aktuellen. Parallelen, die nicht allen schmecken werden. Erkenntnis Nr. 1: Auch nach Gutenberg war nicht alles Gold. Erkenntnis Nr. 2: Auch in Zeiten des Postfaktischen sollten Fakten nicht verabsolutiert werden.

Ralph Bollmann (52) ist Korrespondent für Wirtschaftspolitik der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in Berlin. Der Historiker und Jurist veröffentlicht regelmäßig kulturgeschichtliche Essays und Bücher. Seine Merkel-Biografie aus dem vergangenen Jahr gilt als die aufschlussreichste Veröffentlichung über das Leben und Wirken der Frau, die in den vergangenen 16 Jahren die deutsche und die europäische Politik geprägt hat. Foto: Daniel Pilar
Illustration: Folker Gratz, Marta Sher – stock.adobe; Bearbeitung: VRM

Vielleicht sollte ich gleich zu Beginn eine heimliche Leidenschaft gestehen: Wo immer ich mich in Deutschland oder im Ausland aufhalte, ob beruflich oder privat, kaufe ich mir als Erstes die örtliche Zeitung, ob es nun die „Glocke“ in Oelde ist oder die „Gazzetta del Mezzogiorno“ in Bari – zumindest, wenn ich die Landessprache einigermaßen verstehe. Weil es kaum eine bessere Möglichkeit gibt, sich die jeweilige Region in all ihren Facetten zu erschließen. Für eine erste Ahnung, wie eine Stadt „tickt“, genügt oft schon die Lektüre einer einzigen Ausgabe; auch die Qualität der Zeitung selbst gibt oft schon eine Ahnung von der Lebendigkeit einer Stadtgesellschaft, Angebot und Nachfrage stehen durchaus in einem Zusammenhang.

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Um es vorwegzunehmen: Gerade in Deutschland ist das Bild, das sich daraus ergibt, im Ganzen erfreulich. Allerdings ist es auch schon vorgekommen, dass ich in einer wunderschönen Stadt in einem gemütlichen Café bei der Lektüre einer sehr gut gemachten Lokalzeitung dachte, hier sei die Welt noch in Ordnung – und ein paar Wochen später in einem Branchendienst lesen musste, dass es genau diese Redaktion künftig nicht mehr geben würde. Umso mehr freut mich dieser Preis, der dokumentiert, wie wichtig die Recherche gerade im Lokalen ist.

Benannt ist er nach Johannes Gutenberg. Vor mehr als einem halben Jahrtausend ging von Mainz eine Medienrevolution aus, die mindestens so umwälzend war wie die Veränderungen von heute: die Erfindung des Buchdrucks. Verbunden mit dem Aufstieg eines neuen Trägermediums, des billigeren Papiers anstelle des teuren Pergaments, führte das zu einer Explosion von Kommunikation, wie sie zuvor nicht denkbar gewesen wäre, zu einer ungeheuren Verbreitung von Fakten, aber auch Fiktionen, zu Aufklärung, aber auch zu einer neuen Art von Hass – zu Phänomenen also, wie wir sie auch in der Medienrevolution unserer Tage erleben, insbesondere mit dem Aufstieg der sozialen Netzwerke.

Üblicherweise wird die Erfindung des Buchdrucks und die Ausbreitung der Schriftlichkeit als Erfolgsgeschichte erzählt: Die beschleunigte Zirkulation von Informationen ermöglichte erst den Aufstieg der Wissenschaft; ohne Gutenberg, so die These, wäre die Erde immer noch eine Scheibe oder zumindest der Mittelpunkt des Planetensystems. Ohne den Buchdruck auch kein mündiger Bürger, der sich selbst Informationen verschaffen und auf diese Weise am Gemeinwesen mitwirken kann. Und natürlich auch keine Recherchen, keine Fakten, keine Aufklärung.

All das ist nicht falsch, aber es ist eben nur die eine Seite der Medaille. Die neue Form von Kommunikation brachte auch eine neue Art von Hass in die Welt – oder, wo dieser Hass vorher schon existiert haben mag, verschaffte sie ihm zumindest einen größeren Resonanzraum als je zuvor. Ja, es stimmt: die Theologie Martin Luthers, die von jedem Gläubigen die Kenntnis der Heiligen Schrift verlangte, brachte einen ungeheuren Bildungsschub. Während der Reformationszeit kaufte jeder lesekundige Deutsche rund zwanzig Flugschriften, die Gesamtauflage der Pamphlete betrug nach vorsichtigen Schätzungen rund zehn Millionen Exemplare – Zahlen, die erst 200 Jahre später wieder erreicht werden sollten.

Emotion und Denunziation bestimmten die Flugschriften

Aber in diesen reformatorischen und gegenreformatorischen Schriften ging es nicht in erster Linie um Fakten, oft noch nicht einmal um eine möglichst getreue Auslegung der Heiligen Schrift. Oft genug heizten sich nur die Emotionen auf, ging es um die Denunziation der jeweils anderen Seite. Blutige Religionskriege waren die Folge, die erst mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 vorerst befriedet wurden. Und als die letzten Zeitzeugen dieses grausamen Mordens die politische Bühne verlassen hatten, ging das Ganze von vorne los: 1618 begann abermals ein Glaubenskrieg, der dreißig Jahre lang dauerte. In manchen Regionen Süddeutschlands starben bis zu zwei Drittel der Bevölkerung. Diese Katastrophe war gewiss nicht nur, aber doch auch die Folge einer Medienrevolution.

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Die Frau, die diese Parallele zuletzt am Lautesten heraufbeschwor, kennen Sie alle: Sie heißt Angela Merkel. Vor ein paar Jahren las sie ein dickes Buch über eben diesen Dreißigjährigen Krieg, und sie traf den Autor zu einem ausführlichen Gespräch, den Berliner Politologen Herfried Münkler. Sie redete vor der Unionsfraktion darüber und auch auf dem Kirchentag. Ihr Argument ging so: Eine neue Generation, die das Elend des Krieges nicht mehr selbst erlebt hatte, wollte nicht mehr so viele Kompromisse machen. Neue Akteure hätten gedacht: „Hier kann ich noch eine kleine Forderung mehr stellen, und da kann ich noch ein bisschen härter herangehen. Und schwupp – schon war die ganze Ordnung im Eimer, und der Dreißigjährige Krieg brach aus.“

Draußen in der Welt wurde Merkel nun ausgerechnet für diese Eigenschaften gefeiert, die man im Inland bisweilen an ihr kritisierte: für ihren Pragmatismus, für die Bereitschaft zum Kompromiss, für den Verzicht auf Ideologie. Vor allem aber: für die Orientierung an Fakten. Vor allem in der ersten Phase der Corona-Pandemie galt die Naturwissenschaftlerin als die Frau, die sich an der Realität des Virus orientierte: Es ist ernst, nehmen sie es auch ernst, lautete damals ihre viel zitierte Warnung.

Zwei der Texte, die heute ausgezeichnet werden, berühren genau dieses Thema. Aber was ist das eigentlich: Fakten? „Fakten, Fakten, Fakten“: So bewarb Helmut Markwort, der Gründer der Zeitschrift „Focus“, einst im Fernsehen sein Magazin. Die Erläuterung, was das sei und warum das in anderen Medien angeblich nicht geboten werde, blieb er schuldig.

Damit stellt sich zunächst einmal die Frage: Gibt es überhaupt eine Instanz, die darüber urteilen kann, was Fakten sind und was nicht? Natürlich nicht. In einer offenen Gesellschaft, in einer freien Wissenschaft, in einem unabhängigen Journalismus kann Erkenntnis immer nur im Diskurs entstehen, einem Diskurs freilich, der bestimmten Regeln und Konventionen folgt. Interessanterweise nahm die Bundeskanzlerin an diesem Punkt sogar ihren Intimfeind Donald Trump in Schutz, als dessen Twitter-Account gesperrt wurde: Dass ein Privatunternehmen quasi autoritativ über den Tatsachengehalt einer Aussage entscheidet, das ging der DDR-Bürgerin mit persönlicher Diktaturerfahrung dann doch zu weit.

Ich erlaube mir, über dieses Thema in einer Doppelrolle zu sprechen, als Journalist und als Historiker. Journalisten neigen dazu, vor allem auf die mündliche Überlieferung zu vertrauen. Wer zum Beispiel über die Bundespolitik berichtet, der steht im steten Gespräch mit den Akteuren, auf Pressekonferenzen, in Hintergrundgesprächen und Telefonaten, per Mail oder SMS. Wenn zwei Quellen unabhängig voneinander dasselbe sagen, neigt er dazu, es zu glauben.

Im Tagesgeschäft muss bisweilen auch eine einzige Quelle ausreichen, wenn der Urheber als vertrauenswürdig gilt oder kraft Amtes die Autorität hat, zu dem Thema eine Festlegung zu treffen. Viele Historiker hingegen geben auf die mündliche Überlieferung wenig bis gar nichts. Lange wurde in der Geschichtswissenschaft sogar darüber gestritten, ob diese „Oral History“ als Quellengattung überhaupt in Betracht kommt. Inzwischen ist das weithin anerkannt, aber immer nur in Kombination mit anderen Quellen. Ich habe das bei den Recherchen für meine Merkel-Biographie oft genug erlebt: Was mir Zeitzeugen über den Ablauf von Ereignissen berichteten, sei es nun in der Spendenaffäre der CDU, in der Eurokrise oder im Streit um die Flüchtlinge, ließ sich oft nicht mit der Chronologie in Einklang bringen, die sich aus der schriftlichen Überlieferung ergab, aus amtlichen Dokumenten etwa oder aus der zeitgenössischen Berichterstattung der Medien.

Vetomacht des Faktischen – aber keine letzten Wahrheiten

In den allermeisten Fällen glaube ich nicht, dass mich die Gesprächspartner bewusst angelogen haben. Das Erinnerungsvermögen war schlichtweg nach so langer Zeit verblasst; und dass die Akteure mit wachsender Distanz vor allem jene Umstände verdrängen mögen, die ihrem Selbstbild wenig förderlich erscheinen: Das ist nur allzu menschlich.

Was also ist unter diesen Umständen „wahr“? Einer der großen deutschen Historiker des 20. Jahrhunderts, Reinhart Koselleck, sprach in diesem Zusammenhang von der „Vetomacht der Quellen“. Was er damit meinte, das lässt sich auf die Geschichtsschreibung wie auf den Journalismus gleichermaßen anwenden: Nicht jedes Wort, das man in einem journalistischen Text oder in einer historischen Abhandlung schreibt, kann man in einem strengen Sinn als „wahr“ beweisen. Man darf aber nicht schreiben, was als unwahr erwiesen ist. Das mag banal klingen, es hat aber sehr weitreichende Konsequenzen für die Arbeit des Chronisten. Nicht in dem Sinne, dass es seine oder ihre Freiheiten erweitert. Sondern ganz im Gegenteil, dass es ihn oder sie zur Demut zwingt: Es beinhaltet die Erkenntnis, dass es letzte Wahrheiten nicht gibt.

Noch etwas Weiteres spielt eine Rolle: Kontext. Fakten gibt es nicht losgelöst von ihrem Zusammenhang. Auch das unterscheidet professionellen Journalismus von mancher Aufregung in den sozialen Medien: Zeitungen und Rundfunksender beschäftigen Journalistinnen und Journalisten, die sich über einen längeren Zeitraum mit einem Themengebiet beschäftigen. Zwingend ist das nicht. Man kann sich in ein Thema auch kurzfristig einarbeiten, auch dafür braucht es aber die nötigen Ressourcen. In den Redaktionen selbst, viele von Ihnen werden das kennen, bietet das oft Raum für Reibereien: Die Fachredakteure werfen den Reportern oft Ahnungslosigkeit vor, umgekehrt fangen sie sich selbst den Vorwurf der Distanzlosigkeit ein. Nötig ist am Ende beides, auf das richtige Verhältnis von Nähe zu Distanz kommt es an.

So haben die Recherchen des Journalisten und die Quellen des Historikers am Ende viel gemein. Beide Berufsgruppen respektieren die Vetomacht des Faktischen, ob sie nun Biografien schreiben oder Artikel für die Zeitung, ohne dabei letzte Wahrheiten für sich in Anspruch zu nehmen. Daran sollte man erinnern in einer Zeit, in der nach der 16-jährigen Kanzlerinnenschaft Angela Merkels so vieles im Umbruch ist. Einer Regierungschefin, die in ihrer späten Amtszeit selbst zu einem Gegenstand der globalen gesellschaftlichen Spaltung geworden war, zum Objekt des Hasses wie der Bewunderung – auch wenn sie das politische Feld im Moment nicht so gespalten zurücklässt, wie man es noch vor Kurzem vielleicht erwartet hätte.

Und schließlich sollte man daran erinnern in der Stadt Johannes Gutenbergs, dessen Erfindung den fatalen Kampf um letzte Wahrheiten einst so stark befeuerte.

Von Ralph Bollmann