Elisabeth R., terrorverdächtig: Zwei Leben, zwei Gesichter

Radikal und aggressiv: „Reichsbürger“ propagieren das Fortbestehen des Kaiserreichs.

Aus einer Wiesbadener Theologin und Religionslehrerin in Mainz wird eine „Reichsbürgerin“, die Gesundheitsminister Lauterbach entführen will – eine Spurensuche.

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MAINZ/WIESBADEN. In ihrem früheren Leben war Elisabeth R. eine als streitbar bekannte Religionslehrerin an einem Gymnasium in Mainz. Eine Theologin, die in Wiesbaden wohnte und kluge Bücher schrieb. In ihrem späteren Leben lebte sie zurückgezogen in einer sächsischen Kleinstadt. Nachbarn, die sie nur flüchtig kannten, beschrieben sie als „etwas wunderlich“. In diesem späten Leben wurde Elisabeth R. zur „Reichsbürgerin“. Zur Staatsfeindin, die nun unter Terrorverdacht steht, weil sie mit Gleichgesinnten die Bundesregierung stürzen und Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) entführen wollte. Wie konnte es dazu kommen? Eine Spurensuche – im früheren und im späteren Leben der vierfachen Mutter Elisabeth R., die heute 75 Jahre alt ist und nun in Untersuchungshaft sitzt.

Die Frau soll laut Bundesanwaltschaft Rädelsführerin einer terroristischen Vereinigung sein, die einen „Blackout“ plante und so bürgerkriegsähnliche Zustände herbeiführen wollte. Das Ziel: Sturz der Regierung. Die Gruppe wollte den Vorwürfen zufolge das ganze derzeitige Regierungssystem abschaffen, das Rad in jeglicher Hinsicht zurückdrehen. Es handelt sich um Mitglieder der „Reichsbürger“-Bewegung – laut deren Ideologie besteht das alte Kaiserreich weiter, hat die moderne Bundesrepublik keine Existenzberechtigung. Folglich zielen „Reichsbürger“ auf die Grundpfeiler der Demokratie und deren Repräsentanten.

Infolge der Corona-Pandemie hat sich die Bewegung weiter vernetzt und radikalisiert – Elisabeth R. und ihre Gruppe wollten auch den Gesundheitsminister entführen. Und hätten dabei, so der Vorwurf, auch die Tötung seiner Personenschützer in Kauf genommen.

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Terrorgruppe im Dunstkreis der „Vereinten Patrioten“

Vier Männer der Gruppe, die zum Dunstkreis der Telegram-Chatgruppe „Vereinte Patrioten“ gehörten, wurden schon im April festgenommen, unter anderem im pfälzischen Neustadt an der Weinstraße. Und ein halbes Jahr später dann Elisabeth R., die eine „übergeordnete Stelle“ im „administrativen“ Teil der Gruppe eingenommen habe. Also für die Planung und Koordinierung zuständig war. Auf einem Video ist zu sehen, wie sie nach der Hubschrauberlandung beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe von Polizisten weggeführt wird – ohne Handschellen, dafür mit braunem Papierbeutel in der Hand. Sie hat längere weiße Haare und ist sehr dünn, ist aber erkennbar noch sehr gut zu Fuß.

Festgenommen wurde Elisabeth R. in Flöha bei Chemnitz. Dort lebte sie in einem großen, verwinkelten, teils holzverkleideten Haus. Seit wann genau, ist unklar, offenbar wohnte sie allein. Ein Reporter der „Freien Presse“ hat sich vor Ort umgehört und aus seinen Beobachtungen und Gesprächen mit Nachbarn den Eindruck einer „wunderlichen Eigenbrötlerin“ mitgenommen. Sie soll öfter nachts im Schein einer Taschenlampe Unkraut gezupft oder den Rasen gemäht haben. Auf eine Frau, die sie vom Pilzesammeln kannte, habe sie wie ein „Waldweibel“ gewirkt – „naturnah und ein bisschen schrullig“. Offenbar habe sie zwei Gesichter gehabt, resümiert der Reporter in seinem Text.

„Zwei Gesichter“ – diese Zuschreibung fällt auch im Gespräch mit Personen, die sie aus ihrem früheren Leben kennen. Zwischen 1977 und 2004 war sie Religionslehrerin an einem Mainzer Gymnasium, lebte auf der anderen Rheinseite in Wiesbaden. Sie sei zweifellos eine starke Persönlichkeit gewesen, heißt es wiederholt, die ihre Schüler sehr gefordert, aber auch sehr gefördert habe. Mit hohen Ansprüchen, auch an sich selbst. Dabei kam offensichtlich nicht jeder mit. Nicht im Schüler-, noch weniger im Kollegenkreis. Sie galt als robust und resolut – aber war sie auch radikal? Gar politisch extrem? Wenn überhaupt, dann hätten sie sie eher „links“ vermutet, sagen Gesprächspartner, die sie aus ganz unterschiedlichen Zusammenhängen kennen. Und die nun sehr überrascht sind über die Entwicklung, die sie genommen hat.

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Zumindest offiziell ist sie in ihrer aktiven Beamtenzeit weder links- noch rechtsextrem in Erscheinung getreten. Sie ist gar nicht negativ aufgefallen, offiziell. Laut der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), für die sie bis 1992 vorwiegend im Schuldienst eingesetzt wurde, sind aus dieser Zeit „keine Auffälligkeiten“ bekannt. Auch im Dienst des Landes Rheinland-Pfalz, wohin sie danach als Fachleiterin für den evangelischen Religionsunterricht gewechselt ist, seien keine „Vorkommnisse aufgetreten, die irgendwelche disziplinarischen Maßnahmen notwendig gemacht hätten“, erklärt die zuständige Behörde ADD auf Anfrage. Ihren „Doktor“ hat sie in Heidelberg gemacht; den Professorentitel hat sie 1997 an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz erworben, in Praktischer Theologie. 2002/2003 habe sie zwei Lehraufträge innegehabt, sei aber zu keiner Zeit regulär an der Uni beschäftigt gewesen, teilt die dortige Pressestelle mit. Seither „bestanden und bestehen keinerlei Beziehungen“ zu ihr. Und auch der Uni, erklärt eine Sprecherin, „liegen keine Informationen zu Beschwerden, Problemen, Auffälligkeiten“ bei ihrer kurzzeitigen Tätigkeit vor.

Doch wenige Jahre nach dem Jahrtausendwechsel muss es einen Bruch gegeben haben in ihrem Leben. Das Haus im Familienbesitz, ein Altbau in der Nähe des Wiesbadener Kurparks, musste 2005 zwangsweise verkauft werden. Endgültig in den Ruhestand versetzt wurde die Lehrerin 2006. Kurz danach erschienen noch einige Bücher von ihr, unter anderem zur Unterrichtspraxis, die noch „unverdächtig“ sind. Schon um diese Zeit muss sie nach Sachsen gezogen sein. Und irgendwann tauchte sie dann ab in die Szene der „Reichsbürger“, beendete ihr altes Leben.

Alles, was bislang bekannt ist, deutet also darauf hin, dass es sich bei Elisabeth R. um einen Fall von „Altersradikalisierung“ handelt – ein ungewöhnliches, aber keinesfalls unbekanntes Phänomen. Vor allem nicht in der Szene der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“, die sich ihre eigenen Fantasiestaaten erschaffen. „Wegen des deutlich höheren Altersdurchschnitts von rund 50 Jahren“ werde bei diesen „auch von einer ,Radikalisierung in der zweiten Lebenshälfte‘ gesprochen“, heißt es im sächsischen Verfassungsschutzbericht.

Das Wirken Elisabeth R.s spätestens ab 2016, 2017 fiel den Behörden dann schließlich doch negativ auf. Die Bücher, Schriften und „Offenen Briefe“, die sie danach verfasst und veröffentlicht hat – teils gedruckt, teils im Netz –, haben klar verfassungsfeindliche Inhalte. Es ist die abseitige, dem Normalleser völlig absurd erscheinende, aber übliche „Reichsbürger“-Rhetorik: Aggressives Eintreten für das Fortbestehen des Kaiserreichs; „BRD-GERMANY“ sei eine „Firma“ ohne staatliche Legitimation und unter Militärbesatzung; die Vereinten Nationen eine „Plünder-Brut“; dazu Antisemitismus, Verschwörungstheorien, Beschimpfungen und Drohungen. Zu dieser toxischen Mischung kommt dann noch die Coronapandemie hinzu. Nun können sich ganz unterschiedlich Radikalisierte zumindest auf die ihnen gemeinsame Feindschaft zum bestehenden Staat einigen. Auch die Texte von R. lesen sich immer extremer. 

Gericht: „Herabsetzung und Diffamierung des Staates“

Im Oktober 2020 erhob das Land Rheinland-Pfalz Disziplinarklage zur Aberkennung des Ruhegehalts gegen die pensionierte Lehrerin, wegen ihrer Bücher, und nachdem sie sich in Schreiben an mehrere Finanzbehörden gewandt hatte. Auch dies – einschüchternde, oft juristisch anmutende Eingaben an Verwaltungsmitarbeiter – gehört zum bekannten „Reichsbürger“-Arsenal. International spricht man von „paper terrorism“, „Papierterrorismus“. Im Februar 2021 wurde ihr von der landesweit zuständigen Disziplinarkammer des Verwaltungsgerichts Trier das Ruhegehalt aberkannt, weil sie sich „aktiv gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung“ betätigt habe. Sie legte Berufung ein, doch im März 2022 bestätigte das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz die Entscheidung. Sie habe gegen ihre Treuepflicht verstoßen, „in Gestalt einer Herabsetzung und Diffamierung des Staates und seiner Institutionen“.

Bundesweit bekannt wird der Fall Elisabeth R. dann mit ihrer Festnahme. Nach Informationen der „Freien Presse“ ist die 75-Jährige inzwischen wieder in ihrer neuen Heimat Sachsen – zur Untersuchungshaft in dem Chemnitzer Frauengefängnis, in dem auch die NSU-Rechtsterroristin Beate Zschäpe einsitzt. Für eine Rückkehr in ihr erstes Leben ist es nun endgültig zu spät.