MARBURG-BIEDENKOPF Flüchtlinge nicht als Last, sondern als Chance begreifen - diesen Ansatz verfolgen Helmut Kretz und Ulrich Kling-Böhm vom Diakonischen Werk. Ein Gespräch über Integration, Miteinanderkultur und die Frage: "Schaffen wir das?"
Von Christian Röder
Redakteur
Den persönlichen Kontakt suchen: Helmut Kretz (r.) geht gemeinsam mit einem Flüchtling aus Äthiopien im Rahmen eines Workshops einen deutschen Liedtext durch. (Archivfoto:Röder)
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MARBURG-BIEDENKOPF Flüchtlinge nicht als Last, sondern als Chance begreifen - diesen Ansatz verfolgen Helmut Kretz und Ulrich Kling-Böhm vom Diakonischen Werk. Ein Gespräch über Integration, Miteinanderkultur und die Frage: "Schaffen wir das?"
Herr Kretz, Herr Kling-Böhm, ganz allgemein: Was braucht es für eine gelungene Integration?
Helmut Kretz: Integration ist ein steiler Begriff. Zunächst hat man von Willkommenskultur gesprochen, heute spricht Marian Zachow häufig von Miteinanderkultur. Auf diesem Stand sehe ich mich auch. Für eine gelungene Integration sind Dinge wichtig, wie ein gesicherter Bleibestatus, die Arbeitsstelle, ein eigenes Einkommen und vieles mehr - und da haben wir noch einen weiten Weg vor uns. Zurzeit haben selbst große Unternehmen nur wenige Flüchtlinge beschäftigt.
Ulrich Kling-Böhm: Es gibt Bemühungen vom Kreisjobcenter und der Agentur für Arbeit, Flüchtlinge mit einer guten Bleibeperspektive ins Arbeitsleben zu bringen. Da ist in den vergangenen Monaten viel passiert. Ein Grundproblem ist aber zuallererst die Sprache. Viele Betriebe sind durchaus bereit, Flüchtlinge einzustellen. Doch zunächst müssen zumindest rudimentäre Kenntnisse der deutschen Sprache her. Zudem ist es wichtig, dass man Schulen und Kitas dementsprechend ausstatten muss - auch mit Personal.
Ist Sprache die größte Hürde für Migranten?
Kling-Böhm: Es ist zumindest eine ganz wesentliche. Wenn es tatsächlich darum geht sich zu integrieren, ist Sprache das A und O.
Kretz: Es ist wichtig, dass man die Möglichkeit, Sprache zu erlernen maximal fördert. Vor allem Begegnungen sind dafür wichtig. Das Aufeinandertreffen von Flüchtlingen und Deutschen außerhalb eines schulischen Rahmens sorgt ebenfalls für Spracherwerb. Hier trauen sich manche Flüchtlinge erstmals deutsche Wörter in den Mund zu nehmen - und sie merken, dass kommt bei meinem Gegenüber an.
Welche Wege zur Integration eröffnet denn das Diakonische Werk?
Kretz: Wir bringen Flüchtlinge und Ehrenamtliche zusammen - in ganz unterschiedlichen Formen. Unter anderem bieten wir auch Sprachkurse an. Das ist ein Angebot, das in die Lücken geht. Denn bis ein Flüchtling zu einem offiziellen Deutschkurs zugelassen wird, sitzt er teilweise schon Monate in der Gemeinschaftsunterkunft. Wir bieten Sprachunterricht sofort. Darüber hinaus gibt es Begegnungsmöglichkeiten in der Unterkunft und in einem Café. Manchmal begleiten wir, die wir schon einen Zugang zu den Flüchtlingen bekommen haben, sie auch zu Veranstaltungen. Ich habe den Eindruck, als braucht es uns noch, um eine Brückenbaufunktion zu übernehmen.
Integration ist keine Einbahnstraße. Wie wichtig ist es, die Deutschen immer weiter für das Thema zu sensibilisieren?
Kretz: Sehr wichtig. Das geschieht durch öffentliche Veranstaltungen bei denen Flüchtlinge auf Deutsche treffen und vor allem dann, wenn sie selbst zu Wort kommen und solche Events vielleicht auch durch eigene Beiträge bereichern können - und so weit sind die ersten mittlerweile auch. Hinzu kommt, dass sie dazu bereit sind. Sie schotten sich nicht ab - im Gegenteil: Sie öffnen sich und wollen am gesellschaftlichen Leben teilhaben.
Wie schätzen Sie denn die Integrationsbereitschaft vonseiten der Migranten ein?
Kretz: Sehr groß. Selbst auf religiösem Gebiet habe ich bis dato keine Berührungsängste kennengelernt. Da gibt es Muslims, die haben sich schon im vergangenen Jahr angeboten zu helfen, Weihnachtsfeiern mit vorzubereiten.
Und wie sieht es vonseiten der Deutschen aus?
Kretz: Andersherum ist es schon so, dass da offene Fragen sind. Versteht er mich? Wie kann ich mich mit ihm verständigen? Was kann ich falsch machen? Auf welche kulturellen Unterschiede muss ich achten?
Viele Fragen klären sich sicher recht schnell beim ersten Kontakt, oder?
Kretz: Ja. Das ist auch ein gutes Stichwort. Vieles geschieht auch in Selbstorganisation. Da werden Kontakte aufgebaut, wo ich sie noch gar nicht vermutet hätte. Manche nehmen die Flüchtlingshilfe selbst in die Hand. Ein Beispiel aus Dautphe: Eine ältere Dame ist, als Flüchtlinge in ihre Straße gezogen sind, einfach hingegangen, hat sich vorgestellt und die Migranten an die Hand genommen. Vollkommen ohne Berührungsängste hat sie schnell einen Zugang zu den Menschen bekommen. Solche Begegnungen würde ich mir mehr wünschen. Gerade die Weihnachtszeit eignet sich vielleicht dafür: Dass wir uns in Gastfreundschaft üben.
Kling-Böhm: Wir müssen allerdings auch darauf achten, dass wir andere Benachteiligte, zum Beispiel Hartz-IV-Empfänger, jetzt nicht vergessen und abhängen. Der Fokus darf sich jetzt nicht völlig verschieben. In Marburg erleben wir schon, dass viele sozial Benachteiligte nun Angst haben, noch weiter hinten runter zu fallen. Deshalb geben wir auch keine kostenlose Kleidung für Flüchtlinge im Laden aus, eben um Neid-Debatten zu vermeiden. Flüchtlinge und andere Bedürftige, wie beispielsweise Wohnungslose, die auf eine kostenlose Abgabe angewiesen sind, können auf die Kleiderkammer in der Zentrale zukommen. Wir rechnen auch keine Sozialberatungsstunden mit Flüchtlingsberatungsstunden auf - die gibt es zusätzlich.
Viele Angebote wie Deutschkurse, Kleidung und Co. Sind gerade am Anfang wichtig. Zu Integration gehört aber mehr. Was wird in dieser Hinsicht getan?
Kretz: Wir haben auch eine Möbelbörse und Wohnungsvermittlung. Von diesem Angebot her können wir immer helfen den zweiten großen Schritt in Richtung Integration zu gehen: Die Einrichtung eines eigenen Zuhauses. Der Landkreis hält sich ja ausschließlich bei diesen ersten Schritten - Erstaufnahme und Erstbezugswohnungen - auf. Hinsichtlich Integration ist es jedoch unerlässlich Wohnungen für eine dauerhafte Bleibe zur Verfügung zu stellen. Ich halte ein wenig die Luft an, wie lang dieses Angebot hält. Auf längere Sicht ist hier sicherlich noch Wohnraum zu schaffen.
Kling-Böhm: Hier ist vor allem eine Kluft zwischen Stadt und Land zu erkennen. Im städtischen Bereich etwa gibt es sehr wenige freie Wohnungen. Viele kommen demnach gar nicht aus der Gemeinschaftsunterkunft raus, da es beim Nachschub mit neuen Wohnungen stockt.
Wollen denn viele der Flüchtlinge in die Städte?
Kretz: Das ist zunächst durchaus ein Wunsch von vielen. Allerdings merken wir zunehmend, dass auch viele Flüchtlinge in den Dörfern bleiben wollen. Sie merken: Dort bin ich willkommen und ich habe meinen Platz. Zudem stellen Sie fest, dass es in Deutschland auch auf dem Land Arbeitsplätze gibt, insbesondere im Hinterland.
Kling-Böhm: Auf Dauer müssen wir schauen, dass der öffentliche Personennahverkehr gut ausgestattet ist. Dass die Leute gut zu ihren Ausbildungs- und Arbeitsplätzen kommen. Wir müssen verstehen, dass Flüchtlinge vor allem auch eine Chance für den ländlichen Raum sind: Man kann dem demografischen Wandel damit entgegenwirken, Leerstand beseitigen, sie gehen arbeiten und einkaufen ...
Auch im kommenden Jahr kommen sicherlich weitere Flüchtlinge in die Region. Was meinen Sie, hat Bundeskanzlerin Merkel recht, wenn sie sagt: "Wir schaffen das"?
Kretz: Ich würde den Satz anders formulieren. Flüchtlinge sind ein Geschenk für uns. Durch diese Herausforderung können wir uns unserer selbst und unseres Wertesystems bewusst werden. Ich erlebe, wie sich Einheimische aufeinanderzubewegen, um diese Herausforderung zu meistern. Es bilden sich Netzwerke und Initiativen aus den unterschiedlichsten Schichten und Lagern. In der Flüchtlingshilfe trifft man sich, engagiert sich und nimmt das eigene Gemeinwohl mehr in den Blick. Hinsichtlich dieser Aufgabe geschieht viel Positives. Ich bin zuversichtlich, dass wir mit dieser Herausforderung auch wachsen. Allerdings darf die Ehrenamtlichkeit nicht überbelastet werden. Es braucht genügend Fachkräfte, die diese Menschen begleiten. Zudem braucht das ehrenamtliche Engagement eine verbindliche Einbindung und Kooperation mit den handelnden staatlichen Stellen.
Zu den Personen
Helmut Kretz ist Leiter des Diakonischen Werks Gladenbach-Biedenkopf in Biedenkopf. Ulrich Kling-Böhm leitet das Diakonische Werk Oberhessen in Marburg. Zum Jahreswechsel haben sich die Diakonien zusammengeschlossen