WETZLAR/DILLENBURG Das Thema Flüchtlinge beherrscht die Politik. Es beherrscht die Politiker, es politisiert die Bürger. Und es spaltet. Menschen stehen sich mit ihren...
. WETZLAR/DILLENBURG Das Thema Flüchtlinge beherrscht die Politik. Es beherrscht die Politiker, es politisiert die Bürger. Und es spaltet. Menschen stehen sich mit ihren Meinungen frontal gegenüber. In der Politik, in Parteien, in Vereinen, in Familien.
Wie ist die politische Lage im Lahn-Dill-Kreis, was bedeutet sie für die bevorstehende Kommunalwahl im März? Eine Analyse.
Landrat Wolfgang Schuster (SPD) wirkt zunehmend dünnhäutig und gereizt. Am Donnerstag war er in Friedberg, dort wollte die hessische Landesregierung mit Landräten und Bürgermeistern über die Flüchtlingssituation reden. Schuster hatte nach kurzer Zeit die Nase voll. Er schreibt auf seiner Facebook-Seite, dass Finanzminister Thomas Schäfer (CDU) den Kommunen, also Kreisen, Städten und Gemeinden, mitgeteilt habe: Wenn sie wegen nicht gedeckter Kosten für Flüchtlinge Probleme mit der Haushaltsgenehmigung hätten, sollten sie an anderer Stelle für eine Kompensation sorgen. Schuster: "Mir reicht es, ich fahr jetzt nach Hause."
Diskussion mit den Ministern der Regierung - "Mir reicht es, ich fahr jetzt nach Hause"
Das Flüchtlingsthema zehrt am Chef der Kreisverwaltung. Die Behörde hat inzwischen die Unterbringung von rund 2500 Flüchtlingen im Lahn-Dill-Kreis organisiert, dafür knapp 180 Wohnungen als Unterkünfte angemietet. Darüber hinaus sind 3000 Flüchtlinge in Erstaufnahmestellen im Kreis. Der Kreis hat sich auch hier - im teilweise sehr kurzfristigen Auftrag des Landes - um Camps in Wetzlar und Herborn gekümmert.
Außerdem steht in Hessen die Kommunalwahl bevor. Am 6. März, also in knapp vier Monaten, entscheiden die Bürger auch über einen neuen Kreistag im Lahn-Dill-Kreis. Als Landrat muss sich Schuster um seinen Posten nicht sorgen. Er ist direkt gewählt, und es zeichnet sich bisher kein Gegenbewerber ab, der ihm 2018 das Amt streitig machen könnte. Aber: Politik kann er nur mit Hilfe der Koalition aus SPD, FWG und Grünen machen. Stärkste Fraktion ist zwar die CDU mit 28 Abgeordneten, allerdings haben die drei Koalitions-Fraktionen bislang gemeinsam 47 der 81 Sitze im Kreistag. Besteht diese Koalitionsmehrheit auch nach der Wahl? Bleiben die anderen politischen Spitzenpositionen in der Verwaltung weiter bei Grünen (Vize-Landrat Heinz Schreiber), SPD (hauptamtlicher Kreisbeigeordneter Stephan Aurand) und FWG (ehrenamtlicher Kreisbeigeordneter Horst Euler)?
Kommunalwahlen hatten zuletzt in Mittelhessen höchstens noch 30 bis 40 Prozent der Wähler zur Stimmabgabe gebracht. Die Nichtwähler sind die deutliche Mehrheit. Aber die Flüchtlingsdebatte führt dazu, dass viele Nichtwähler wieder politisch werden. Wer bisher nicht wählte, weil er sich sagte, "die da oben machen doch sowieso was sie wollen", fühlt sich plötzlich in der Flüchtlingsdebatte von anderen Bürgern verstanden. Kritik an der aktuellen Flüchtlingspolitik der Regierenden kanalisiert die bislang gefühlte Ohnmacht zu einer gefühlten Macht.
Der Haken an der Sache: Die Kreispolitik ist für die Flüchtlingspolitik weder verantwortlich, noch kann sie daran etwas ändern. In der Kreispolitik gilt nicht "wir schaffen das", sondern "wir müssen das machen". Es geht nicht darum, ob die Kommunalpolitiker für oder gegen Flüchtlinge sind, gerne weniger oder mehr wünschen. Der Lahn-Dill-Kreis bekommt Flüchtlinge vom Land Hessen zugewiesen und muss sie unterbringen. Das ist eine Pflichtaufgabe. Basta. Wer zur Kommunalwahl die Arbeit der Kommunalpolitiker in der Flüchtlingsfrage bewerten will, müsste also fragen: Wie haben sie ihre Aufgabe gelöst und die Flüchtlinge untergebracht beziehungsweise wie wollen sie künftig für die Unterbringung von Flüchtlingen sorgen? Eine Frage, die bisher von der CDU nicht aufgegriffen wurde. So zeigt sich hier kein Dissens zur SPD-FWG-Grüne-Koalition.
Die CDU Lahn-Dill thematisiert Asyl und Flüchtlinge durch ihren Vorsitzenden Hans-Jürgen Irmer. Er spricht meist möglichen Asylmissbrauch an und eine Verschärfung des Asylrechts, äußert sich damit zur Asylpolitik im Allgemeinen, also zur Bundespolitik.
Irmer ist Politikprofi seit Jahrzehnten. Wenn er also in seinem "Wetzlar Kurier" "Deutschland muss Deutschland bleiben" schreibt sowie "Auffanglager in Nordafrika" und "Bootsflüchtlinge wie in Australien mit der Marine zurückschicken" fordert, weiß er, was er tut. Da rutschen keine Sätze zufällig raus. Und Irmer weiß um die Wirkung seiner Worte. So stellt er auch Fragen zum Thema Asyl: Wie es mit erhöhter Kriminalität aussieht, wann möglicherweise Ferien- oder Zweitwohnungen beschlagnahmt würden, wann es finanzielle Einschnitt gebe, ob durch knapperen Wohnraum steigende Mieten befürchtet werden müssten. Und so weiter.
Er stellt nur Fragen. Unter der Türschwelle schiebt er damit bei den Wählern auch Ängste durch. Und das Wichtigste im Wahlkampf ist die Angst der Bürger. Angst vor Arbeitslosigkeit, Angst vor Ausländern, Angst vor Kriminalität, Angst vor sozialem Abstieg, … Politiker weisen auf hohe Arbeitslosigkeit hin und werben mit ihrer Wirtschaftskompetenz, sie weisen auf steigende Kriminalität hin und setzen ihre Forderung nach mehr Sicherheit dagegen. Am stärksten ist aber die Angst vor allem was fremd ist. Vor fremden Menschen und Religionen beispielsweise. Das ist Irmers Gebiet. Das System ist ein bisschen wie Kirche im Mittelalter: Aus Menschen Sündern machen, um ihnen dann Vergebung anbieten zu können. So festigt beziehungsweise gewinnt man Macht.
Wer dem CDU-Politiker Gutes will, könnte sagen: Er gräbt mit seinen Thesen, Forderungen und Fragen den rechten Parteien wie AfD und NPD die Wähler ab. Man könnte aber auch sagen: Im Windschatten von Irmers Thesen erscheinen plötzlich auch Aussagen der AfD okay. Der frühere Bild-Chefredakteur und Wahlkampfberater von Edmund Stoiber (CSU), Michael Spreng, formulierte es so: "Ich habe Angst, dass sich die Achse Deutschlands wieder weit nach rechts verschiebt. In der Politik hat ein verhängnisvoller Wettlauf begonnen: Die CSU versucht, die AfD einzuholen, die AfD die NPD. Ich habe Angst, dass die Mitmenschlichkeit unter die Räder kommt. Dass aus einer weltoffenenen Gesellschaft erst eine ängstliche, dann eine wütende, und schließlich eine hasserfüllte und intolerante wird." Zumal auch der CDU-Kreistagsabgeordnete und Braunfelser CDU-Fraktionschef Sascha Knöpp auf Twitter schon verbreitet hatte: "Eine Koalition zwischen Union und AfD ist durchaus denkbar."
Was bedeutet all das für die Kommunalwahl im Lahn-Dill-Kreis? Die Flüchtlingssituation wird das dominierende Thema für die Wähler sein - auch wenn die Kommunalpolitik keinen Einfluss auf die Asylpolitik hat.
Das Wichtigste im Wahlkampf ist die Angst der Bürger. Angst vor Ausländern, Angst vor Kriminalität
Es zeichnet sich ab, dass die AfD in den Kreistag einziehen könnte; dass viele Bürger konservativer, also CDU, wählen könnten. Außerdem ist es unwahrscheinlich, dass die Grünen wieder so viele Stimmen erhalten werden wie bei der vergangenen Wahl - nur wenige Tage nach der Atomkatastrophe in Fukushima.
Landrat Wolfgang Schuster könnte so Schwierigkeiten bekommen, im Kreistag eine Mehrheit hinter sich zu versammeln. Vielleicht nur in einer großen, rechnerischen Koalition mit einer konservativen Lahn-Dill-CDU. Politik wäre dann für ihn nur mit Zugeständnissen möglich. Das erste Zugeständnis wäre die Abberufung des derzeitigen Vize-Landrats Schreiber. Ein Posten, den die CDU beanspruchen würde.
Landrat, SPD, FWG und Grüne haben in den vier Monaten bis zur Wahl ein Problem. Wenn sie an der Macht bleiben wollen, müssen sie möglichst viele ihrer Stammwähler mobilisieren und zur Stimmabgabe bringen. Dafür fehlt ihnen aber noch ein Thema. Eines, das die Wähler genauso beschäftigt wie die Flüchtlingsdebatte, ist nicht in Sicht. Bleibt nur die Flüchtlingsdebatte selbst. Eine offensiv vorgetragene Gegenposition zur Haltung der CDU.