Bluttat auf der Kirmes: Ersthelferin schildert den Abend
Auf der Marburger Innenstadtkirmes ist am Freitagabend ein 16-Jähriger niedergestochen und schwer verletzt worden. Imbiss-Mitarbeiterin Sophia Budde hat ihm vermutlich das Leben gerettet.
Von Mark Adel
Redakteur Biedenkopf
Sophia Budde und ihr Chef Adi Ahlendorf an dem Ort, an dem sie dem verletzten Jungen vermutlich das Leben rettete. Foto: Mark Adel
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MARBURG - Da ist Blut, da sind viele aufgeregte Menschen, da ist ein junger Mann, der aus einer klaffenden Wunde am Hals blutet. Sophia Budde bewahrt die Nerven, leistet Erste Hilfe - und rettet dem Opfer wahrscheinlich das Leben. "Das war doch nichts Besonderes", winkt sie ab. "Das hätte jeder gemacht."
Es ist Freitagabend um kurz nach 18 Uhr, in Marburg ist Innenstadtkirmes. Vor der Mensa eskaliert offenbar ein Streit zwischen Flüchtlingen. Nach Polizeiangaben werden Schüsse aus einer Schreckschusspistole abgefeuert. Es kommt zu tumultartigen Szenen.
Sophia Budde aus Gießen arbeitet zu dieser Zeit als Aushilfe im Imbisswagen von Festwirt Adi Ahlendorf, etwa 100 Meter vom Geschehen entfernt. Schüsse hört sie nicht. Sie sieht aber, wie eine Gruppe aus Richtung der Außenbänke der Mensa flüchtet und am Imbiss vorbei Richtung Lahn läuft. "Die haben geschrien." Kurz darauf eilt ein Freund ihres Sohnes vorbei. "Da hinten liegt einer und ist nur am bluten", habe er gerufen. "Da sind wir natürlich hingerannt."
ADI AHLENDORF
Alle seine Mitarbeiter seien in Erster Hilfe geschult, sagt der Marburger Schausteller Adi Ahlendorf. "Und sie wissen auch, wie man besonnen reagiert. Sie müssen ja auch öfter mal deeskalierend auf Menschen einwirken. Und es kann ja sonst auch mal was passieren."
In seinen mehr als 50 Berufsjahren habe es immer wieder gewalttätige Auseinandersetzungen auf Veranstaltungen gebeben. "Ich finde nicht, dass das mehr geworden ist, eher im Gegenteil", sagt er. "Heute erfährt man über das Internet mehr, was auf der Welt passiert. Dadurch hat man das Gefühl, es gibt mehr Gewalt."
Früher sei es häufiger zu Schlägereien gekommen. Die seien dann aber nicht so gefährlich gewesen. "Da hat jemand eine auf deutsch gesagt aufs Maul gekriegt, und danach sind die an die Theke gegangen und haben einen Schoppen getrunken." Heute sei die Gefahr größer, dass ein Messer gezogen wird. "Es ist brutaler geworden."
Sophia Budde stößt schließlich hinter dem Riesenrad auf die Gruppe etwa 15 junger Menschen, die um einen am Boden liegenden Jugendlichen stehen. Er blutet aus dem Hals. "Die haben versucht, mit einer unsterilen Mülltüte die Blutung zu stillen", erzählt die 36-Jährige.
Eine andere Zeugin holt Verbandsmaterial und wählt den Notruf. Sophia Budde hält Kompressen an die klaffende Halswunde. Sie hält Daumen und Zeigefinger etwa acht Zentimeter an ihrer rechten Halsseite auseinander, um zu zeigen, wie groß die Wunde war. Die Halsschlagader habe sie sehen können.
Der Junge soll sich aufsetzen und nicht liegen bleiben. So rät es Disponent in der Rettungsleitstelle, und auch Sophia Budde kennt dieses Vorgehen. Hauptberuflich ist sie Pflegerin, arbeitet für "Lieblingspflege" in Staufenberg. Dort betreut sie Senioren, aber auch schwer kranke jüngere Menschen bis hin zu Kindern. Der Umgang mit lebensbedrohlichen Situationen ist ihr nicht neu. Regelmäßig frischt sie ihre Kenntnisse in Erster Hilfe auf. Ein Glücksfall für das Opfer, aber für die Retterin ist das nichts Besonderes. "Ich habe einfach die Blutung gestillt. Mehr habe ich nicht getan."
Doch damit hat sie vermutlich ein Leben gerettet. Der Junge, ein 16-jähriger Flüchtling habe viel Blut verloren und sei schon blau im Gesucht gewesen, sagt Sophia Budde. Er war aber bei Bewusstsein. "Er war ganz aufgeregt und böse, wollte verständlicherweise Rache üben", sagt sie.
Und er sei offenbar alkoholisiert gewesen. Sie habe den Jungen beruhigt und mit ihm geredet. Es sei in dem Streit mit einem anderen Jungen um ein Mädchen gegangen, habe er ihr gesagt. "Er hätte ein Mädchen angebaggert, das dem anderen gehörte." Der Kontrahent habe ihm vermutlich mit einem Cuttermesser in den Hals gestochen. "Der Junge war aufgeregt, die Gruppe darum war aufgeregt. Er hat natürlich Angst gehabt, dass er stirbt", sagt die 36-Jährige. "Er hat immer wieder gesagt: Bitte lass mich nicht sterben, bitte lass mich nicht sterben. Ich habe versucht, alle zu beruhigen. Dass der Junge ganz normal ein- und ausatmet. Er hat natürlich sehr viel Blut verloren. So sah danach auch mein Pulli aus."
Nach kurzer Zeit kommt ein Polizist dazu, danach der Rettungsdienst. "Die kamen in Schrittgeschwindigkeit, bis ich gerufen habe, sie sollen ein bisschen schneller laufen." Wie lange das gedauert hat, weiß sie nicht. "Ich hatte so viel Adrenalin in mir, dass ich das gar nicht gemerkt habe."
Und deshalb habe sie auch keine Angst gehabt, dass der Junge unter ihren Händen stirbt. "So denkst du nicht. Der merkt ja, wenn du Angst hast und nervös bist. Da muss man einfach locker und cool bleiben." Der Junge habe sehr gut deutsch gesprochen. "Aber er war natürlich sehr aufgeregt und sagte, die Rache komme auf jeden Fall. Um ihn zu beruhigen, habe ich mich mit ihm über Gott und die Welt unterhalten. Das hat dann auch funktioniert."
Dennoch: "Zu helfen, das ist in den Menschen drin. Es sollte keiner wegschauen, egal ob Flüchtling, deutsch oder was weiß ich. Jeder hat das Recht, zu leben."
Adi Ahlendorf hat die Schüsse gehört. "Man wusste ja nicht, ob es eine scharfe Waffe war oder nicht", sagt er. Eine Mitarbeiterin sieht, wie ein junger Mann die Pistole in die Lahn warf. Taucher der DLRG bergen die Waffe, laut Polizei eine Gaspistole, kurz darauf. "Ich war erst der Meinung, da hat sich jemand einen Scherz erlaubt."
Das Opfer wird nach der Erstversorgung in die Uni-Klinik gebracht. "Die erlittenen Verletzungen sind nach jetzigem Wissen nicht lebensgefährlich", teilt Polizei-Pressesprecher Martin Ahlich später am Abend mit. Die Beamten waren nach der Bluttat mit einem Großaufgebot vor Ort.
Am Samstag berichtet die Polizei, dass drei Männer im Alter von 16, 21 und 29 Jahren festgenommen worden sind. Was ihnen konkret vorgeworfen wird, ist bislang nicht bekannt.