Ein Jahr zum "in die Tonne kloppen" für Gastronomie in Gießen
Gießener Gastronomen sehen erneuten Lockdown erwartungsgemäß sehr skeptisch und versuchen, sich irgendwie "über Wasser zu halten". Trotzdem ist es für sie ein Jahr "zum in die Tonne kloppen".
Von Rüdiger Schäfer
Das ist im Moment gar nicht so einfach: Zumindest in Restaurants und Bars lässt sich die Aufforderung "Iss was" während des Novembers nicht umsetzen. Foto: Schäfer
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GIESSEN - Seit Montag ist erst einmal Schluss - schon wieder. Restaurants, Kneipen, Bars und Clubs sind für Gäste tabu, mindestens bis Ende November. Ausgenommen sind Lieferung und Abholung von Speisen für den Verzehr zu Hause. Dabei haben viele Gastronome bereits im Frühjahr gewarnt, einen zweiten "Lockdown" möglicherweise nicht zu überstehen. Und immer wieder kommt nun die Frage nach der Verhältnismäßigkeit auf. Schließlich sei doch viel in Schutzvorkehrungen investiert, seien Hygienekonzepte überlegt und angepasst worden. Mit den erneut verschärften Corona-Regeln hoffen Bund und Länder, die Pandemie besser eindämmen zu können, die Infektionsdynamik zu unterbrechen und den "nationalen Gesundheitsnotstand" zu verhindern. Wie gehen Wirte in Gießen mit der Situation um - und vor allem: Wie geht es für sie weiter?
Die Fusionsküche von "Iss was" in der Roonstraße bleibt für vier Wochen komplett kalt. "Unsere Qualität ist nicht einzuhalten", begründen die Inhaber David Aydin und Daniel Nyrokw die Entscheidung. "Wir haben keine Autos und keine Leute zum Ausfahren." Und abholen? "Das geht auch nicht. Die Leute sind verunsichert. Da kommt kaum einer." Also schicken sie die drei Köche nach Hause und stellen Strom und Gas ab, um Kosten zu sparen. Feste Mitarbeiter begeben sich in Kurzarbeit. Und von den 450-Euro-Jobbern habe ein Teil in andere Jobs untergebracht werden können. Die andere Hälfte musste entlassen werden. Die restliche frische Ware sollte noch übers Wochenende verarbeitet werden, berichtet Aydin. Anders als beim ersten "Lockdown" seien sie diesmal früher darauf vorbereitet gewesen und hätten "auf den Tag genau" eingekauft.
Im "Schlosskeller" hofft wiederum Frank Haas darauf, dass es sich diesmal eher lohnt, Essen zum Abholen anzubieten. "Da Kitas und Schulen geöffnet haben, testen wir das zumindest in den ersten Tagen." Beim ersten Lockdown sei schon in den letzten Tagen davor "gar nichts mehr los gewesen". Nun war das vergangene Wochenende jedoch voll ausgebucht, weshalb er zuversichtlich ist, "so gut wie möglich vom Frischwarenbestand herunterfahren zu können".
OBERBÜRGERMEISTERIN "AUF STREIFE"
Um sich ein Bild von der Stimmung kurz vor dem Lockdown der Gastronomie in Gießen zu machen, hat Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz am Samstagabend zwei Teams des Ordnungsamtes begleitet. Von 21.30 bis 0.30 Uhr waren sie gemeinsam unterwegs: von Rödgen über verschiedene Shisha-Bars in der Weststadt und der Innenstadt über Kneipen und Lokale in der Innenstadt bis hin zu einer Lokalität in der Lahnstraße. Dabei seien einzelne Verstöße festgestellt worden, heißt es in einer Pressemitteilung der Stadt. Mal sei zu lange Alkohol verkauft respektive konsumiert worden, mal war die Belegung zu dicht, mal der Kohlenmonoxid-Gehalt in der Luft zu hoch. Auch ein "Fehlalarm" gehörte dazu. So habe sich eine Feier mit mehr als zehn Leuten als 18. Geburtstagsfeier im kleinen Rahmen entpuppt. "Der Abend endete mit zwei Bußgeldern sowie verschiedenen Mahnungen und Verwarnungen." Insgesamt sei den Ordnungsamts-Mitarbeitern respektvoll begegnet worden, so Grabe-Bolz. Die meisten Bürgerinnen und Bürger seien verständnisvoll gewesen. "Die Teams gingen selbst aber auch sehr freundlich und respektvoll mit den Gastronomen oder Menschen auf der Straße um. Sie warnen vor und sind bei wiederholten Verstößen konsequent. Das ist richtig und notwendig." Das Fazit der Oberbürgermeisterin fällt positiv aus: "Ich habe höchsten Respekt vor den Leistungen unserer Mitarbeiter. Nicht nur die langen, außergewöhnlichen Dienstzeiten - Samstagnacht bis 1 Uhr unterwegs, am Sonntagmorgen schon wieder bei einer Flohmarkt-Kontrolle - haben mich beeindruckt. Es ist auch und vor allem die Haltung gegenüber den Bürgern, die auf Kommunikation statt auf Konfrontation setzt, die ich nur loben kann und die sich auch auszahlt." (red)
Noch "keinen Plan" hat der Chef dagegen, wie sich die nächsten Wochen personell bestreiten lassen. Dafür seien die zurückliegenden Tage zu chaotisch gewesen, um das entsprechend zu durchdenken.
"Verheerende Katastrophe"
Als "verheerende Katastrophe für die gesamte Gastronomiebranche" bewertet Julia Moos, die mit ihrem Mann die Gaststätte in der Badenburg betreibt, die neuerlichen Einschränkungen. Mit Essen zum Mitnehmen wollen sie versuchen, sich über Wasser zu halten - "auch, damit wir nicht wieder alles wegschmeißen müssen". Beim ersten Lockdown seien nämlich "einige tausend Euro zwangsläufig im Abfall gelandet". Zwei bis drei Leute, glaubt das Ehepaar, für das "Take-away-Geschäft" weiterhin beschäftigen zu können. Allerdings rechnen sie nicht damit, mehr als zwei Prozent vom bisherigen Umsatz zu machen. Ohnehin könne man das gesamte Jahr "in die Tonne kloppen - Ostern, Muttertag, Konfirmationen, Familienfeiern und jetzt auch noch, wie es aussieht, die Weihnachtsfeiern". Zuletzt habe es drei Wochen gedauert, bis die Gäste wiedergekommen seien. "Der Dezember ist dann im negativen Sinne gegessen", so ihre Prognose. Danach folgten mit Januar und Februar zwei für die Gastronomie traditionell umsatzschwache Monate. "Wir sind gewohnt, alle Auflagen der unterschiedlichen Ämter zu erfüllen. Alle Hyg-ienevorschriften haben wir peinlichst genau eingehalten. Und jetzt das!"
Sabato Laurito von der Gaststätte "Zum Löwen" vertraut ebenfalls darauf, mit Liefer- und Abholservice ein paar Einnahmen zu erzielen. Mit einer kompletten Schließung habe er "ganz und gar nicht gerechnet". Dennoch sei er bemüht, alle seine Mitarbeiter zu halten. "Die müssen jetzt ihre Urlaubstage nehmen, danach sauber machen und so weiter." Falls die Gastronomie nach den angekündigten vier Wochen wieder loslegen kann, sei er zuversichtlich, die Zwangspause finanziell einigermaßen zu überstehen.
Die "Pizza Wolke" steigt um auf die Belieferung von Supermärkten mit Tiefkühlpizza, erklärt Inhaber Shademan Souri. So müsse niemand entlassen werden, obwohl der Gastraum geschlossen bleibe.
Um wegen der Corona-bedingt verringerten Kapazität auch in der kalten Jahreszeit Gäste drinnen und draußen bedienen zu können, haben die meisten Gastronomen Veränderungen vorgenommen. Für das "Iss was" sind beispielsweise vier Markisen mit Heizung geordert worden. Die Hälfte der Kosten in Höhe von 12 000 Euro hätten sie bereits angezahlt, erzählt David Aydin. Die Auslieferung sei nun in den Februar verschoben worden. Im "Schlosskeller" kam eine solche Ausstattung für die Terrasse erst gar nicht infrage: "Zu kalt, zu feucht, zu rutschig", sagt Haas. Extra-Zelte gibt es auch an der Badenburg nicht. Laurito Sabato hätte gerne welche angeschafft, die Stadt habe ihm das aber nicht erlaubt. So habe er Schirme mit Heizung bestellt - "alles erstmal für die Katz'".
Dehoga erwartet Klagen
Dass den Gaststätten 75 Prozent ihres November-Umsatzes von 2019 als Ausgleich gewährt werden sollen, findet Shademan Souri "mehr als fair". David Aydin ist sich allerdings nicht sicher, wie das beim "Iss was" berechnet wird. Denn wegen der Neueröffnung Mitte November 2019 hatten sie nur einen halben Monatsumsatz.
Die Badenburg-Wirtin Julia Moos glaubt sowieso nicht so wirklich an die 75 Prozent. Sofort- oder Überbrückungshilfen hätten sie bisher auch nicht bekommen. Das sieht "Schlosskeller"-Betreiber Frank Haas ähnlich. "Erst abwarten, was im Kleingedruckten steht. Im ersten Moment klingt das ganz nett. Am Ende müssen wir dann vielleicht doch jede Menge zurückzahlen", befürchtet er.
Bei der 75-Prozent-Regelung sind die steuerehrlichen Gastronomen im Vorteil. Zudem sparen sie den Wareneinsatz, Energie- und Personalkosten. Doch selbst, wenn ein Betrieb stillgelegt wird, laufen viele Kosten weiter. Das sind etwa Versicherungen, Miete oder Pacht, Telefon, Internet, Energie, Beiträge zur Berufsgenossenschaft, Rundfunkgebühren. Obendrein ist zu berücksichtigen, dass sonstige Hilfen angerechnet werden sollen.
Oliver Seidel, Geschäftsführer des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes (Dehoga) Mittelhessen, kann sich gut vorstellen, dass der eine oder andere Wirt gegen die "angreifbare Verordnung" klagen wird. Vom Verband würden Mitglieder dabei jedenfalls unterstützt.