Reinhold Messner kommt auf Vortragsreise nach Gießen: Mit dem Anzeiger spricht er über seinen Schicksalsberg Nanga Parbat, den Tod seines Bruders und Herausforderungen im Alter.
Von Björn Gauges
Erlebte die größte Tragödie wie den größten alpinistischen Triumph am Nanga Parbat: Bergsteigerlegende Reinhold Messner. Bei seinem Vortrag am 15. Oktober in Gießen wird er davon erzählen. Foto: Andreas H. Bitesnich
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GIESSEN - Der Nanga Parbat ist aufs Engste mit dem Namen Reinhold Messners verbunden. Auf diesem Himalaya-Berg verlor er 1970 seinen Bruder Günther. Über Jahre wurde er fortan von anderen Expeditionsteilnehmern beschuldigt, für dessen Tod verantwortlich zu sein. Und gleichzeitig gelang dem Südtiroler dort acht Jahre nach diesem Drama mit seinem Alleinaufstieg "die Glanzleistung meines Lebens". Auf seiner aktuellen Vortragsreise macht der 77-Jährige am 15. Oktober in der Gießener Kongresshalle Station, um von seinem "Schicksalsberg" zu erzählen. Zuvor hat der Anzeiger mit der Bergsteiger-Legende gesprochen - über den Nanga Parbat, den Massentourismus und sein nächstes großes Projekt.
Herr Messner, was begründet den Mythos des Nanga Parbat?
Zunächst die Lage. Der Berg steht direkt über dem Indus-Knie und ragt 7000 Meter über den Fluss auf. Diesen Höhenunterschied gibt es sonst nirgends. Zweitens ist es der erste 8000er, den Menschen zu besteigen versucht haben - im Jahr 1895. Und drittens gab es in den 1930ern bei deutschen Expeditionen eine Katastrophe nach der anderen. 1934 starben zehn Menschen. 1937 starben 16 Menschen. Davon erzähle ich in meinem Vortrag. In erster Linie geht es aber um meine eigenen Erfahrungen am Berg. Ich habe ihn zweimal bestiegen, 1970 als Teilnehmer einer großen Expedition, bei der mein Bruder starb. Sowie 1978 allein über eine neue Route, es war der erste Alleingang über einen Achttausender.
Es geht dabei also um Ihre Geschichte wie auch die Geschichte des Bergs?
Es gibt mit dem Vortrag die Gelegenheit, klar zu machen, dass ein Berg nicht Rache an den Menschen übt. Lange hieß es, der Nanga Parbat sei der deutsche Schicksalsberg und die Bergsteiger kehrten zurück, um sich an ihm zu rächen. Doch der Berg ist völlig absichtslos. Er ist einfach nur da. Was dort passiert ist, haben wir Menschen zu verantworten. Das ist der Inhalt meines Vortrags.
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Reinhold Messner kommt zu einer Vortragsveranstaltung mit dem Titel "Nanga Parbat - mein Schicksalsberg" am Freitag, 15. Oktober, um 20 Uhr in die Gießener KongresshalleEr berichtet, untermalt von Bildern und Filmmaterial, von den Tragödien, die sich an diesem Berg ereignet haben, sowie vor allem von seinen beiden eigenen Expeditionen. Beim ersten Aufstieg starb 1970 sein Bruder Günther, sein Soloaufstieg 1978 gilt als alpinistischer Geniestreich. Einlass ist wegen Corona bereits ab 18.30 Uhr. Karten und weitere Infos gibt es unter www.Messner-live.de. Restkarten sind an der Abendkasse erhältlich. (red)
Damals, 1970 bei Ihrem ersten Aufstieg, hatten Sie ja die Geschichte all der gescheiterten Bergsteiger im Kopf. Ist es dann eine ganz besondere Herausforderung, wenn man weiß, wie viele Menschen dort ums Leben gekommen sind?
Nein, das würde ich nicht sagen. Es ist eher ein mahnendes Grundwissen, dass das Ganze wirklich gefährlich ist. Es braucht dort ein gerüttelt Maß an Können, an Ausdauer, an Leidensfähigkeit. Und auch ein bisschen Glück, dass nicht im falschen Moment eine Lawine kommt. Aber ich erzähle auch, dass dieser Berg heute für Massenaufstiege präpariert wird. Da bereitet zuvor ein halbes Hundert Einheimischer den Weg vor, sodass Touristen, die sich im Reisebüro angemeldet haben, den Aufstieg angehen können.
Davon liest man ja immer wieder, wenn es um den Mount Everest geht. Es ist aber mittlerweile überall so im Himalaya?
Nicht auf allen 8000ern. Auf sechs, sieben. Manche sind so komplex zu besteigen, dass sich niemand die Mühe gemacht hat, die Vorarbeit zu leisten. Aber wenn sie geleistet ist, kommen immer die Touristen, die sich eine Passage kaufen. Das ist wie mit den Weltraumflügen. Da wird man raufgeschossen und wieder runtergeholt. Das ist ja auch gekauft und hat mit Können nichts zu tun. Am Everest ist es immerhin so, dass die Leute noch selber steigen müssen. Auf einer Piste zwar, aber sie steigen noch selber.
Gibt es dieses Bergsteigen denn überhaupt noch, so wie Sie es verstehen und damals betrieben haben?
Es ist unter Druck geraten. Ich nenne es das traditionelle Bergsteigen, denn heute klettern 90 Prozent der Leute in der Halle. Und die anderen gehen an kleine Felsen, wo alles präpariert ist und sie nicht runterfallen können. Klettern ist ein richtiger Sport, es boomt und ist jetzt auch olympisch. Aber es hat mit dem, was ich mag und immer noch tue, nichts zu tun. Auf der anderen Seite haben wir an den berühmten Bergen wie dem Mont Blanc, dem Aconcagua in Südamerika, dem Kilimandscharo in Afrika oder dem Mount Everest, diesen Pistenalpinismus, eine Form des Tourismus, die ebenfalls mit dem traditionellen Bergsteigen nichts zu tun hat. Denn das findet dort statt, wo niemand anderes ist. Wo in Eigenverantwortung agiert wird.
Diese Orte gibt es doch eigentlich kaum noch?
Diese Orte gibt es schon. In Tibet, im Himalaya, sind Tausende von Gipfeln, die niemand kennt, die nicht erreicht sind. Aber da geht auch niemand hin, das interessiert niemanden. Wenn Sie heute von einem 6000er kommen und haben dort eine schwierige Route bewältigt, dann sagt Ihnen der Journalist:"Das ist doch nicht einmal ein 7000er." Und schon ist das vergessen. Es muss eine Aufklärungskampagne geben, um die Unterschiede klarzumachen: Was ist Sport? - gegen den ich nichts habe. Was ist Tourismus? - den es braucht, um den Einheimischen eine Zukunft zu geben. Und was ist traditioneller Alpinismus? Das sehe ich als meine Hauptaufgabe: dieses Erbe weiterzugeben.
Sie haben sich ja in den vergangenen Jahren immer wieder mit dem Nanga Parbat befasst, auch Bücher darüber geschrieben ...
Ich habe vier Bücher über den Nanga Parbat geschrieben. Neu ist nun der Status der Geschichte. Die Leiche meines Bruders ist ja gefunden worden, aber die Verschwörungstheorien um seinen Tod sind geblieben. Denn die Leute haben sich von irgendwelchen Lügnern irgendwelche Geschichten erzählen lassen. Und nun wollen sie nicht mehr herunter von diesen Geschichten, weil sie ja sonst zugeben müssten, dass sie sich haben belügen lassen. Jetzt habe ich mit Bildern bis ins letzte Detail aufgeklärt, wie es damals war. Denn der Berg lügt nicht, aber der Mensch kann lügen, jeder von uns. Dass diese Verschwörungstheoretiker einfach das Blaue vom Himmel heruntergelogen haben, wusste nur ich, weil ich allein mit meinem Bruder in dieser Notlage war. Es war ja niemand dabei, die anderen konnten das nur erfunden haben. Nun ist es aufgeklärt, und ich zeige, dass meine Geschichte alleine vom Berg diktiert wurde.
Und das bedeutet ...?
Der Berg hat eine Felsplanke, weil der Jetstream seit Jahrtausenden an dieser Stelle den Schnee wegbläst und dort kein Gletscher entstehen kann. Es wurde behauptet, an dieser Stelle sei mein Bruder gestorben. Wenn er aber dort umgekommen wäre, läge seine Leiche heute noch dort oben. Aber nur ein Gletscher trägt eine Leiche langsam ins Tal. Der Gletscher fließt talwärts, und mein Bruder wurde mitgezogen über eine Strecke von 3,5 Kilometern. Das ist alles nachprüfbar! Aber die Verschwörungstheoretiker wollen ihre Lügen verteidigen. Die wollen ja nicht sagen: Sorry, Herr Messner, wir haben uns da geirrt, wir haben da Blödsinn erzählt. Das wollen sie übrigens auch nicht, was das Coronavirus angeht. Solche Theorien, die im Netz kursieren, fallen uns früher oder später auf den Kopf. Wenn wir da keine Lösung finden, Lügen, Böswilligkeiten, zu entlarven, dann werden wir die Demokratie verlieren. Das Netz ist eine großartige Erfindung, aber auch eine großartige Möglichkeit für alle möglichen Verbrechen. Und Rufmord ist ein Verbrechen.
Obwohl es diese Geschichten um Ihren Bruder ja schon immer gab ...
Es gab sie schon 1970, weil der damalige Expeditionsleiter falsche Sachen in die Welt gesetzt hat. Unter anderem: Mein Bruder wäre auf 8000 Meter Höhe gestorben und läge dort oben. Aber dort oben liegt er nicht. Er ist weiter unten gestorben und dann talwärts geschoben worden durch das Eis der Lawinen, bis die Leiche dort im Jahr 2005 auftauchte. Seit damals gibt es für keinen Fachmann der Welt den mindesten Zweifel, dass es so war, wie ich es erzählt habe. Aber meine "lieben Kameraden" wollten einen Skandal, weil er besser verkäuflich ist als eine sachliche Erzählung. Ich habe nach dem Fund von Günthers Leiche meine Brüder und Schwestern mitgenommen an den Nanga Parbat, wo wir Abschied genommen haben.
Wie habe ich mir denn die Persönlichkeit von Extrembergsteigern wie Ihnen vorzustellen? Sie sind ja vermutlich eher Einzelgänger, brauchen aber auch den Zusammenhalt in gefahrvollen Situationen.
Ich bin ein soziales Wesen, wie alle anderen. Aber wir können uns auch ab und zu abspalten vom Rest der Welt. Ich habe großartige Kameraden erlebt, die vor mehr als 50 Jahren mit mir zum Klettern gingen, Freunde geworden und geblieben sind. Aber ich habe eben auch andere erlebt, die eine moralische Hybris nach außen gekehrt haben. Und sie hatten keine Hemmungen, einem Kameraden einen Brudermord vorzuwerfen, um ein Buch zu verkaufen, oder was auch immer. Ich bin der Moral gegenüber sehr skeptisch. Die Moral ist die Wichtigtuerei vor den Tatsachen, vor der Natur. Ich spreche in meinen Vorträgen und Büchern nie über Richtig oder Falsch. Sondern immer über Tatsachen. Es gab im Alpinismus immer diese Moralhelden, die alles getan haben, um ihre Kameraden schlechtzureden.
Es sind also dieselben menschlichen Phänomene wie überall anders auch?
Genau. Menschen sind allzu menschlich, das ist auch richtig so. Es gibt aber auch unter Bergsteigern nicht nur Gutmenschen, sondern auch diejenigen, die es ins Gegenteil verkehren. In meinem Fall ging es darum, mir die Glaubwürdigkeit zu nehmen. Mit Lügen, mit Lügen, mit Lügen - aber es ist ihnen nicht gelungen.
In der Ankündigung Ihres Auftritts heißt es, der Alleingang über den Nanga Parbat sei die "Glanzleistung Ihres Lebens" gewesen - warum?
Bei der ersten Expedition 1970 hatten wir neun Tonnen Ausrüstung dabei. Bei meinem Alleingang hatte ich 60 Kilogramm. Es ist bis heute nie ein 8000er so elegant bestiegen worden wie 1978 von mir am Nanga Parbat. Das klingt jetzt überheblich, aber alpingeschichtlich wird das weltweit so gesehen. Ich habe es auch darauf angelegt: keine fremde Hilfe, eine neue Route im Aufstieg und eine teilweise neue Route im Abstieg. Also immer in der Wildnis. Es war bis dahin noch nie jemand da hochgestiegen. Ich war völlig auf mich alleingestellt. Und ich hatte das Glück, das zu überleben.
Auch das Wetter wurde Ihnen zum Problem?
Ich hatte in der Wand ein Erdbeben der Stärke 7 auf der Richterskala. Das hätte mich umbringen können, weil riesige Eislawinen herunterkamen. Aber ich hatte mein Zelt so gut gewählt, dass ich auch die Lawinen überstand, die über mir abgingen und ich heil vom Berg herunterkam. Diese Konstellation habe ich später nie mehr erlebt: neue Route, Wettersturz, Schneesturm, keine Möglichkeit abzusteigen. Und dazu ein Erdbeben. Es war alles da, was mich hätte umbringen müssen. Aber ich bin dem Umbringen entschlüpft.
Noch eine Frage: Sie sind jetzt 77, wirken immer noch unglaublich fit. Wie machen Sie das? Gehen Sie noch bergsteigen?
Zuerst einmal habe ich eine junge Frau (lacht). Dann machen wir noch Bergbesteigungen. Und ich habe jede Menge Ideen, die ich umsetzen möchte. Ich habe rechtzeitig erkannt, dass es nichts bringt, etwas zu versuchen, was man im Alter nicht mehr bewältigen kann. Mit meinem Sohn habe ich vor einem Jahr noch einen 6000er versucht. Er hat ihn bestiegen, ich nicht. Aber ich bin immer noch unterwegs als bescheidener Kletterer, meinem Alter geschuldet. Man muss das machen, was man kann. Und ich habe das große Glück, meine Herausforderungen noch nicht ausgeschöpft zu haben.
Verraten Sie uns etwas?
Ich bin dabei, ein neues Unternehmen zu planen, um die Welt zu reisen, um das traditionelle Bergsteigen zu erklären und das Erbe an die nächsten Generationen weiterzugeben. Meine große Geschichte wird sein, noch einmal um die Welt zu reisen, in Hunderte Städte, um zu erzählen, was traditioneller Alpinismus ist. Mit Filmen, Vorträgen, Diskussionen. Es sollte in Australien starten, ist wegen der Pandemie aber derzeit nicht möglich. Wenn es wieder möglich ist, geht es weiter.