Psychologin rät in der Corona-Krise: Balance wahren
In unserem Interview erklärt eine Psychologin von Vitos Gießen-Marburg wie man mit Ängsten und Einsamkeit in der Corona-Krise umgeht.
Von Markus Engelhardt
Redakteur Gladenbach
Hantel statt Hamsterkauf: Zwar liegt es in unseren Genen, Vorräte anzulegen - aber Sport in der Quarantäne ist aus Sicht von Psychologin Lisa-Kristin Leufgens noch sinnvoller. Foto: Markus Engelhardt
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MARBURG - Sorge um Angehörige oder die eigene Gesundheit, wirtschaftliche Probleme und Einsamkeit zu Hause, Angst vor der Zukunft - die Coronakrise stellt die Menschen auch vor psychische Herausforderungen. Psychologin Lisa-Kristin Leufgens erklärt, was das bedeutet.
Frau Leufgens, das Coronavirus beherrscht Schlagzeilen und Eilmeldungen. Was macht eine solche Pandemie mit den Menschen? Welche Ängste löst diese Bedrohung aus?
Gerade in der Akutphase, in der wir uns befinden, werden in vielen Menschen existenzielle Ängste hervorgerufen. Neben Ängsten vor einer eigenen Erkrankung und unzureichender medizinischer Versorgung, wie wir es teilweise gerade in Italien sehen, entstehen Ängste um nahe stehende Menschen aus Risikogruppen, wirtschaftliche Ängste sowie Ängste bezüglich der elementaren Grundversorgung. Neben dem Virus machen uns auch die Einschränkungen des öffentlichen Lebens Angst.
Psychologisch gesehen erleben wir den Verlust von Kon-trolle, Hilflosigkeit und Ohnmacht. Vieles ist unklar. Wir wissen noch wenig über den Verlauf der Pandemie, die Dauer der Einschränkungen oder wann Medikamente entwickelt werden.
ZUR PERSON
Lisa-Kristin Leufgens ist Psychologin bei Vitos Gießen-Marburg und befindet sich in der Weiterbildung zur Psychotherapeutin. Vitos betreibt in Marburg eine Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, zu der auch die psychiatrische Tagesklinik gehört.
Viele Menschen kaufen aufgeregt Toilettenpapier und Konserven. Wie erklären sich diese sogenannten Hamsterkäufe?
Vorräte sammeln liegt zunächst einmal in unseren Genen - wer im Sommer für den Winter vorgesorgt hatte, überlebte. Durch die oben angesprochenen Ängste werden diese Verhaltensweisen wieder präsenter. Zudem haben wir Menschen ein Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit und Kontrolle - wenn wir uns derzeit manchmal etwas hilflos und ausgeliefert fühlen, kann es entlastend sein, etwas "getan zu haben" und zumindest die Ernährung für die nächsten Wochen sichergestellt zu haben.
In Bezug auf das Toilettenpapier können wir zudem von einem medialen Schneeballeffekt ausgehen: Menschen, die vielleicht zuvor nicht Toilettenpapier in großen Mengen gekauft hätten, sehen Bilder von leeren Regalen, hören überall in den Medien davon und kommen zu dem Schluss, dass eine Packung mehr nicht schaden könne. Es ist allerdings davon auszugehen, dass das Phänomen Hamsterkäufe in den nächsten Wochen abnehmen wird, wenn Menschen die Erfahrung machen, dass von allem genug da ist.
Was ist aus psychologischer Sicht der Unterschied zwischen "bekannten" Bedrohungen wie dem Klimawandel auf der einen und "neuen" wie Corona auf der anderen Seite? Warum scheint das eine mehr Panik auszulösen als das andere?
Ein entscheidender Unterschied ist zum einen genau diese Neuartigkeit. Unsere Bevölkerung kennt keine Pandemien aus den jüngsten Jahrzehnten unserer Geschichte. Zudem sind die Veränderungen im Vergleich zu beispielsweise dem Klimawandel greif- und sichtbarer, sie geschehen wesentlich schneller, betreffen uns persönlich: Wir sollen zu Hause bleiben, ins Homeoffice gehen. Reisen, Großveranstaltungen und Familienfeiern werden abgesagt. Der Klimawandel ist zwar medial auch präsent, aber er hat bisher wenig am Alltag des Einzelnen verändert.
Wie sollte man mit seinen Ängsten umgehen? Gibt es ein Rezept gegen Furcht - oder erfüllt diese vielleicht sogar eine wichtige Funktion?
Zunächst einmal erfüllt Angst - wie alle Emotionen - eine wichtige Grundfunktion, in diesem Fall die Warnung vor Gefahren. Sie führt dazu, dass wir vorsichtiger werden. In einem angemessenen Ausmaß sind Angst und Unsicherheit derzeit also völlig normal und gesund. Problematisch wird es, wenn eine potenzielle Gefahr entweder verharmlost oder verdrängt wird oder wenn uns die Angst so einnimmt, dass wir handlungsunfähig werden. Für einen gesunden Umgang ist es wichtig, Ängste zunächst zuzulassen und wahrzunehmen, um sie dann angemessen zu regulieren. Dies ist wissenschaftlich nachgewiesen etwa mit Entspannungstechniken wie Atemübungen, Yoga oder PME (progressive Muskelentspannung) möglich.
Ein weiteres Problem könnte die Überbeschäftigung mit Corona sein, sei es medial, in Gesprächen mit anderen oder gedanklich. Hier helfen gezielte "Corona-Pausen", in denen man beispielsweise zu gewissen Uhrzeiten das Handy weglegt und den Fernseher ausschaltet. In Gesprächen mit anderen können wir versuchen, das Thema Corona nach einem kurzen Austausch für den restlichen Kontakt gezielt außen vor zu lassen. Bei Sorgen und Grübelgedanken, unter denen viele Menschen insbesondere vorm Einschlafen leiden, kann es helfen, alle Gedanken 15 Minuten aufzuschreiben und das Blatt anschließend wegzupacken.
Kneipen und Kinos, Schulen und Kindergärten sind geschlossen: Um die Verbreitung des Virus zu verlangsamen, wird soziale Distanzierung empfohlen. Wie wirkt sich diese Isolation auf die Menschen aus?
Neben dem oben beschriebenen Bedürfnis nach Kontrolle und Sicherheit ist ein anderes zentrales Bedürfnis des Menschen das nach Bindung. Einsamkeit stresst Menschen. Auf der anderen Seite besteht für viele die besondere Herausforderung, im Haushalt mit wenigen Leuten sehr viel Zeit auf einmal zu verbringen, was Konfliktpotenzial birgt.
Was hilft gegen "Lagerkoller"? Wie kommt man mit der relativen Einsamkeit klar?
Tatsächlich ist es wichtig, den Kontakt zu Familie und Freunden zu halten - am besten über Videotelefonie, Telefon oder auch Chat. Menschen verabreden sich zum Beispiel digital zum gemeinsamen Sport oder zum Homeoffice, um Gesellschaft zu erleben. Anderen Hilfe anbieten erzeugt Gemeinschaftssinn und Verbundenheit. So wird das Einsamkeitserleben reduziert, während wir das Gefühl bekommen, etwas bewirken zu können.
Um den Lagerkoller im Griff zu halten, ist es wichtig, den Tag-Nacht-Rhythmus sowie alltägliche Routinen (aufstehen, anziehen, geregelte Mahlzeiten) aufrecht zu erhalten - das schafft Normalität, und wir können ausreichend regenerieren. Neu entstandene zeitliche Freiräume können wir für allerlei selbst auferlegte Aufgaben nutzen, zum Beispiel einen E-Learning-Kurs absolvieren, das neue Buch durchlesen, ein neues Gericht kochen, ausmisten, die Steuererklärung machen oder Ähnliches. Dabei sollte die Selbstfürsorge nicht vergessen werden. Es ist wichtig, gezielt Aktivitäten einzuplanen, die wir genießen, die Spaß machen oder uns entspannen. Ausreichend Bewegung, etwa im Rahmen von Online-Sportkursen, baut Stresshormone ab und unterstützt das Immunsystem. Gesunde Ernährung wirkt sich ebenfalls positiv auf die psychische und physische Gesundheit aus.
Welche psychologischen Folgen für die Gesellschaft sind zu erwarten? Wird Corona irgendwann nur noch ein Teil der Geschichte sein wie etwa das Reaktorunglück in Tschernobyl?
Die psychologischen Langzeitfolgen sind zurzeit noch schwer absehbar. Corona entwickelt sich zu einer der großen Herausforderungen unserer Zeit, die die Menschheit irgendwann überwunden haben wird, ähnlich wie Tschernobyl oder auch das Auftreten der Spanischen Grippe 1918, bei der Millionen von Menschen starben. In der nächsten Zeit besteht natürlich die Gefahr, dass sich bestehende psychische Erkrankungen in ihrem Ausmaß verstärken und auch mehr gesunde Menschen erkranken, da sie aufgrund der aktuellen Situation vermehrt psychischem Stress ausgesetzt sind. Allerdings sind Menschen auch extrem anpassungsfähig, sodass es bei vielen zu einem Gewöhnungseffekt und somit zur Reduktion des anfänglichen Stresspegels kommen wird.
Ob Nachbarschaftshilfe, Spendensammlungen gegen Einkommenseinbußen oder eine Rückbesinnung auf das Wesentliche: Bietet die Krise möglicherweise auch Chancen?
Sicherlich bietet die Krise auch Chancen. Neben den von Ihnen genannten Faktoren sind zum Beispiel derzeit die positiven Auswirkungen auf das Klima medial sehr präsent. Aus psychologischer Sicht wissen wir aus der jüngeren Forschung, dass Akzeptanz, also die Fertigkeit, bestimmte Situationen oder Gefühle so an- und hinzunehmen wie sie sind, sich positiv auf die psychische Gesundheit und das allgemeine Wohlbefinden auswirkt. Mit den derzeitigen Einschränkungen können wir Akzeptanz gegenüber unveränderbaren Gegebenheiten trainieren und zukünftig gelassener reagieren, wenn wir etwa das nächste Mal im Stau stehen.
Wie angesprochen können wir vermehrt Solidarität und Empathie entwickeln, uns engagieren und einbringen. Ein wertvolles Geschenk, das viele derzeit erhalten und das normalerweise echte Mangelware ist, ist Zeit. Diese kann genutzt werden, um sich seiner Werte und Prioritäten im Leben bewusst zu werden.
Noch ein positiver Ratschlag für unsere Leser von der Expertin?
Wahren Sie besonnen die Balance zwischen dem Ernst der Lage und dem Erhalt von Normalität und Leichtigkeit! Einerseits ist es derzeit die Aufgabe jedes Einzelnen, Verantwortung zu übernehmen, indem wir uns alle an Vorgaben und Empfehlungen halten. Andererseits können wir das am besten, wenn wir uns um unsere körperliche, aber auch unsere psychische Gesundheit kümmern.