Ein Magistratsbericht wird Anlass für eine Generaldebatte zu "Gießen 2035Null". Die Opposition wirft der Koalition Unehrlichkeit beim Bürgerantrag vor.
Von Stephan Scholz
Mit großen Demonstrationen bringen "Fridays for Future" den Protest für den Klimaschutz auch in Gießen im Jahr 2019 auf die Straße. Archivfoto: Falk
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GIESSEN. Eigentlich ist die Sache völlig klar: Vor rund einem Jahr hat die Stadtverordnetenversammlung mehrheitlich einen Bürgerantrag beschlossen. Mit ihm haben die Parlamentarier die Klimaneutralität bis zum Jahr 2035 zum offiziellen Ziel der Stadt gemacht. Spätestens mit der Vorlage des ebenfalls beschlossenen Magistratsberichts, wie dieses Ziel erreicht werden kann, ist jedoch erneut eine Debatte aufgekommen. Auch in der Stadtverordnetenversammlung am Donnerstagabend: "Schon vor einem Jahr haben Freie Wähler und FDP gesagt, dass Gießens Klimaneutralität so nicht zu schaffen ist", erinnerte FW-Fraktionsvorsitzender Heiner Geißler. "Wir sagen nicht, dass wir das Ziel nicht schaffen. Wir sagen, dass wir es allein nicht schaffen", betonte Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz. Bei Gegenstimmen der AfD und Enthaltungen von Freien Wählern und Liberalen nahm das Parlament den Magistratsbericht "Klimaneutrales Gießen 2035" zur Kenntnis. Mit dem gleichen Ergebnis votierte das Gremium dafür, 500 000 Euro in den Haushalt einzustellen. Mit dieser Startfinanzierung will der Magistrat unter anderem Maßnahmen zur Information und Beteiligung der Bürgerschaft einrichten.
Tausende Teilnehmer von "Fridays for Future" auf der Straße. Verkehrsaktionstage mit Fahrraddemonstrationen. Unterschriftensammlung für den Bürgerantrag "Gießen 2035Null". Der Klimaschutz bewegt die Menschen in der Stadt und hat das Parlament spätestens im Herbst 2019 als Bürgerantrag erreicht, der breite Zustimmung fand. Ein Jahr später macht sich unter den außerparlamentarischen Klimaschützern allerdings Ernüchterung breit. Sie kritisieren unter anderem, dass der Magistratsbericht Monate verspätet vorliegt, was der Magistrat mit der Corona-Krise gerechtfertigt hat. Aktive um Lutz Hiestermann vom Verein "Lebenswertes Gießen" monieren aber auch den Bericht selbst, unter anderem wegen nicht stimmiger Zahlen (diese Zeitung berichtete). Erst in dieser Woche haben einige Klimaschützer angekündigt zu prüfen, mit einer eigenen Liste bei der Kommunalwahl im kommenden Jahr anzutreten.
Vielfältige Maßnahmen
"Der Bericht kann der Startpunkt einer stadtgesellschaftlichen Debatte werden", verteidigte Grabe-Bolz die vom Magistrat vorgelegte Untersuchung in der Stadtverordnetenversammlung. Das Papier sei eine Bestandsaufnahme dessen, was man bisher in der Stadt beim Klimaschutz geleistet habe. Im Vergleich zu anderen Städten stehe Gießen nicht schlecht da, das Papier zeige auf, wie vielfältig die Maßnahmen in der Stadt waren und sind. Der Klimaschutz sei nicht erst durch einen Bürgerantrag oder eine Bürgerinitiative zum Thema erhoben worden. Doch auch wenn man sich seit Langem engagiere, könne sich die Stadt nicht zurücklehnen. In diesem Sinne gebe der Magistratsbericht auch einen Ausblick, in welche Richtungen es gehen kann. Zum jetzigen Zeitpunkt einen Maßnahmenkatalog oder Aktionsplan vorzulegen, sei wegen der Dynamik des Themas nicht seriös, so die Sozialdemokratin.
Klaus-Dieter Grothe, Fraktionsvorsitzender der Grünen, wandte sich mit einer Bitte an die parlamentarischen und zivilgesellschaftlichen Kräfte der Stadt, gemeinsam an der Sache zu arbeiten. "Es gibt keinen Plan, sonst bräuchten wir keine Bürgerbeteiligung", meinte Grothe. Geißler bezeichnete es gegenüber der Koalition als "spannend, wie sich im Verlauf eines Jahres Wahrheiten und Äußerungen verändern". Auch die Freien Wähler seien für so viel Klimaschutz wie möglich, hätten aber bereits vor einem Jahr deutlich gemacht, dass die Klimaneutralität bis zum Jahr 2035 nicht funktionieren würde. So ließen sich gemäß dem Beschluss beispielsweise keine Baugebiete mehr realisieren, weil jeder zusätzliche Einwohner einen negativen Effekt auf das Klima hätte. "Wir sind ehrlich genug und sagen den Menschen, dass es nicht zu schaffen ist. Sie sind es nicht", konfrontierte der Fraktionsvorsitzende die Koalitionäre.
Deutschlandweit räumten die Liberalen dem Klimaschutz hohe Priorität ein, berichtete FDP-Fraktionsvorsitzender Dr. Klaus Dieter Greilich. Beim Klimaschutzbericht des Magistrats werde sich seine Fraktion aber enthalten, was Greilich unter anderem wirtschaftlich begründete. Die Koalition aus SPD, CDU und Grünen sowie der Magistrat hätten Angst vor der eigenen Courage und davor, den Wählern im Jahr vor der Kommunalwahl reinen Wein einzuschenken. "Tatsächlich hat sich die Koalition mit der im gesellschaftspolitischen Klima des Jahres 2019 natürlich populären Zustimmung zu dem Bürgerantrag in die Bredouille gebracht, da sie eigentlich von vornherein wusste, dass sie den Zielen des Bürgerantrags nicht würde gerecht werden können, wenn sie auch die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der zu treffenenden Maßnahmen zum Klimaschutz berücksichtigt", erläuterte Greilich. Er plädierte dafür, zunächst die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise zu lösen und "nicht mit zum jetzigen Zeitpunkt unangemessenen Klimaschutzmaßnahmen das Kind mit dem Bade auszuschütten und die wirtschaftliche und soziale Existenz vieler Gießenerinnen und Gießener unnötig zu gefährden".
Gesellschaftlicher Konsens
Martin Schlicksupp von der CDU hob hervor, dass es für das Erreichen des Ziels eines breiten gesellschaftlichen Konsenses bedürfe. Einfaches Beschließen durch die Stadtverordneten reiche nicht aus. Christopher Nübel, Fraktionsvorsitzender der SPD, bezeichnete die in der Stadt betriebene bauliche Nachverdichtung als städtebaulichen Klimaschutz. Mit Blick auf den Magistratsbericht appellierte er an die Stadtverordneten, nicht immer über einzelne Sätze zu streiten.