Die aktuelle Geschwindigkeitsbeschränkung an der der neu gestalteten Rathenaustraße in Gießen sorgt für Diskussionen. Bürgermeister Peter Neidel verweist auf die Rechtslage.
Von Stephan Scholz
Um die Rathenaustraße wird der neue Campus gebaut. Die JLU möchte nach der Fertigstellung der Gebäude über die Geschwindigkeitsbeschränkung sprechen. Archivfoto: Scholz
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GIESSEN. Mancher spricht von "Landebahn". Andere kritisieren die aktuelle Geschwindigkeitsbeschränkung, während wieder andere die Bedeutung als Durchfahrtsstraße hervorheben. Anders gesagt: Neben dem Bürgerantrag "Gießen 2035Null" gehört die Neugestaltung der Rathenaustraße derzeit zu den meist diskutierten politischen Themen in der Stadt. Michael Janitzki von der Fraktion "Gießener Linke" sieht in der aktuellen Tempo-30-Regelung "eine Gefährdung der Mehrheit der Leute, die hier laufen werden. Mit Verkehrsberuhigung hat das wenig zu tun." Bürgermeister Peter Neidel bewertet die Situation anders. "Im Fall der Rathenaustraße kommt die Straßenverkehrsbehörde nach rechtlicher Prüfung zu dem Ergebnis, dass im Bereich des Campusplatzes eine Geschwindigkeitsreduzierung auf 30 Kilometer pro Stunde gerechtfertigt ist, auch und gerade wegen der baulichen Gestaltung. Für die Bereiche vor und hinter dem Campusplatz ist nach Ansicht der Straßenverkehrsbehörde eine Herabsetzung der Regelgeschwindigkeit rechtlich nicht begründbar", erläutert der Verkehrsdezernent. Auch in der Koalition von SPD, CDU und Grünen selbst besteht in der Sache Uneinigkeit.
Rund um die Rathenaustraße hat die Justus-Liebig-Universität ihre wohl derzeit größte Baustelle. Es entsteht das neue Philosophikum, inklusive neuer Mensa und zentralem Campusplatz, in den die Rathenaustraße integriert ist. Genau an dieser Konstruktion entzünden sich die aktuellen Debatten. Denn der Verkehr der Straße trifft am Campusplatz auf vorwiegend studentische Fußgänger. Aktuell ist die Geschwindigkeit so geregelt, dass aus beiden Richtungen bis zum Platz Tempo 50 gilt. Im Platzbereich sollen Fahrzeuge - neben Autos werden hier künftig zahlreiche Stadtbusse unterwegs sein - 30 fahren. Für Fußgänger ist eine große Verkehrsinsel errichtet worden.
Ursprünglich hatten die Planungen der rot-grünen Vorgängerkoalition auf dem Straßenabschnitt im Bereich des Platzes einen sogenannten "shared space" vorgesehen, in dem alle Verkehrsteilnehmer gleichberechtigt sind. "Dies erschien und erscheint uns für den zukünftigen Campusplatz die vernünftigste Lösung. Es gibt viele Beispiele in Deutschland und Europa, wo ein solches Konzept hervorragend funktioniert", erläutert Klaus-Dieter Grothe, Fraktionsvorsitzender der Grünen.
Kompromiss der Koalition
Dieses Konzept sei nach der Kommunalwahl 2016 nicht mehr mehrheitsfähig gewesen. "Der in den Koalitionsfraktionen gefundene Kompromiss, der auch später einstimmig im Parlament verabschiedet wurde, sah zum einen eine bauliche Trennung zwischen PKW- und Fußgängerverkehr vor, zum anderen im Bereich des Campusplatzes einen 'verkehrsberuhigten Geschäftsbereich'. Verkehrsrechtlich kann ein Bereich zwischen Tempo 10 und 30 angeordnet werden, nach Absprache sollte das wie in der Neustadt ausgewiesen werden (Tempo 20). Davor und dahinter sollte auf der Rathenaustraße Tempo 30 eingeführt werden", informiert Grothe. Als Fraktionsvorsitzender der SPD verweist Christopher Nübel ebenfalls auf den Kompromiss, führt aber aus, dass durchgängig "Tempo 30 vom Kreisel bis zur Brücke Klingelbach" vereinbart wurde. Nübel kritisiert in der Konsequenz nicht, dass im Bereich des neuen Campusplatzes derzeit Tempo 30 gilt, sondern den Kompromiss selbst. "Aufgrund der angestaubten Verkehrspolitik des zuständigen Dezernenten Neidel und der Gießener CDU wurde eine städtebauliche Chance am Campusplatz zunächst vertan", meint der Sozialdemokrat. Nicht der Koalitionsvereinbarung entspreche jedoch, dass derzeit nur für den Platzbereich Tempo 30 gilt. Das sieht auch Unionsfraktionsvorsitzender Klaus Peter Möller so: "Der Kompromiss der Koalition aus SPD, CDU und Grünen sieht eine durchgehende Tempo-30-Regelung vor - von der Einmündung Heegstrauchweg bis zum Kreisel. Die gegenwärtige Beschilderung entspricht zwar bislang nicht diesem politischen Willen, ist aber wohl im Einklang mit der aktuellen Rechtslage. Hier wird nach Fertigstellung der Straße sicherlich mit der Straßenverkehrsbehörde und der Aufsicht gesprochen werden müssen, um auch diesen Teil des Koalitionsbeschlusses umsetzen zu können." Beim Thema "shared space" ist der CDU-Politiker anderer Auffassung als die Partner von SPD und Grünen. Eine solche Gleichberechtigung der Verkehrsteilnehmer hätte aus seiner Sicht zu den Vorlesungszeiten und im Berufsverkehr zu "zeitweise unübersichtlichen Verkehrssituationen geführt, die mit Sicherheit nicht die Verkehrssicherheit erhöht hätten. Dies käme dadurch, dass zur Erreichung erhöhter Rücksichtnahme geltende und bekannte Vorfahrtsregeln durch eine 'shared space'-Regelung außer Kraft gesetzt werden. Eine Begrenzung der Geschwindigkeit und eine erhöhte Rücksichtnahme auf andere Verkehrsteilnehmer kann auch durch die beschlossene Lösung herbeigeführt werden", führt Möller aus.
Geltendes Recht
Gerade wegen der baulichen Gestaltung komme die Straßenverkehrsbehörde nach rechtlicher Prüfung zu dem Ergebnis, dass eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf Tempo 30 im Bereich des Campusplatzes gerechtfertigt ist, informiert Neidel. Vor und hinter dem Platz sei eine Herabsetzung der Regelgeschwindigkeit nicht gerechtfertigt. "Das führt zu dem Dilemma, dass der politische Wille der Koalition nicht mit der Rechtslage in Einklang steht. Die Verwaltung ist aber an Recht und Gesetz gebunden", erklärt der Bürgermeister. Er weist aber darauf hin, dass Platz und vorgesehene Unigebäude noch nicht errichtet sind. Die Straßenverkehrsbehörde werde die Entwicklung natürlich beobachten und die verkehrsrechtlichen Anordnungen zu gegebener Zeit überprüfen. "Welche Geschwindigkeitsbeschränkungen auf der Rathenaustraße gelten, ist Sache der Universitätsstadt Gießen; wir gehen aber selbstverständlich davon aus, dass hierzu eine gemeinsame Meinungsbildung mit der JLU erfolgen wird. Eine abschließende Bewertung ist aus unserer Sicht ohnehin erst möglich, wenn der komplette Platz und die angrenzenden Gebäude (Erweiterungsbau der Universitätsbibliothek, Seminargebäude I und Mensa) fertiggestellt sind", teilt Uni-Sprecherin Lisa Dittrich mit.