Von Papyrus über Bismarck-Türme bis zum Gloriapalast
Die aktuellen "Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins" versammeln auf mehr als 450 Seiten wieder zahlreiche Kapitel zur Lokalgeschichte.
Von Björn Gauges
Diese historische Postkarte zeigt das später zerstörte Siegesdenkmal mit Brunnen vor dem alten Rathaus auf dem historischen Marktplatz Gießens. Repro: OHG
Jetzt teilen:
Jetzt teilen:
GIESSEN - Um die Gießener Kinolandschaft ist es nicht gut bestellt. Nur noch zwei Adressen kann die Stadt den Fans der großen Leinwand bieten, von denen wohl bald allein eine übrig sein wird. Das sah einmal ganz anders aus. Ludwig Brake erzählt in den aktuellen "Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins" von der Entwicklung der Gießener Kinolandschaft: Von frühen Filmvorführungen an wechselnden Orten über den Unternehmer Adam Henrich, der sich ab 1911 zur bestimmenden Figur in der Gießener Kinoszene entwickelte, bis zum Kino der Nazizeit, das die Staatsmacht als Propagandawaffe nutzte. Der Beitrag Brakes endet mit dem Kinoboom der 1950er, als es zwischenzeitlich sechs Filmpaläste in Gießen gab.
Zeitreisen
Die ausführliche Darstellung des ehemaligen Gießener Stadtarchivars unter dem Titel "Vom Vitagraph zum Gloriapalast" ist nur eins von zahlreichen Kapiteln, die sich mit der Lokalgeschichte in all ihren Facetten befassen. Das mehr als 450 Seiten umfassende Buch beginnt mit dem "Gießener Cicero-Papyrus P. 90" und einer "Zeitreise in die antike Buchkultur", die Autor Helmut Krasser unternimmt. Es führt unter anderem über die spätmittelalterliche Kirchengeschichte von Lützellinden (Stefan Prange) und die Hungener Landwehr gegen Hof Grass (Gerhard Steindl) bis hin zu mehreren Beiträgen über die Zeit des Nationalsozialismus. Heidrun Helwig, Redakteurin des Gießener Anzeigers, berichtet etwa detailliert über "Die Abrahams - eine jüdische Familie aus Gießen". Die Spurensuche der Autorin führt bis nach Ehringshausen und Katzenfurt im unteren Dilltal, wo sich die ersten Spuren der Familie finden. 1913 ließ sich die Kaufmannsfamilie in Gießen nieder. Von dort aus zeichnet Heidrun Helwig nach, wie die Abrahams den Ersten Weltkrieg und die Machtübernahme Adolf Hitlers erlebten. Es folgen die permanent zunehmenden Repressalien, die für manche Familienmitglieder in den Konzentrationslagern von Treblinka und Theresienstadt endeten. Anderen Abrahams gelang die Flucht in die USA - und so steht diese Familiengeschichte exemplarisch für das Schicksal der deutschen Juden in der Zeit des Nationalsozialismus. Heute erinnern vier Stolpersteine vor dem einstigen Wohn- und Geschäftshaus in der Gießener Neustadt an Adolf Abraham, seine Frau Clementine, den Sohn Siegbert sowie seine Mutter Fanny.
Auf Spurensuche ganz anderer Art begibt sich Dagmar Klein in ihrem Beitrag "Vor 150 Jahren - Deutsch-Französischer Krieg 1870/1871". Diese Auseinandersetzung führte zur Gründung des deutschen Staates unter Preußens Führung. Es setzte ein zunehmender Nationalismus ein, von dem das ökonomisch wie politisch erstarkende Kaiserreich erfasst wurde. Dieser Rausch zeigt sich in Gießen bis heute in den Namen mehrerer Straßen: Bismarck, Wilhelm und Moltke finden sich ebenso gewürdigt wie der preußische Kriegsminister Albrecht von Roon, an den die Roonstraße erinnert. Ein Bismarck-Turm wurde auf der Hardt errichtet, hinzu kam ein Krieger-Denkmal mit Brunnen, das am 10. Mai 1900 feierlich eröffnet wurde, heute aber nur noch auf Ansichtskarten zu sehen ist, weil es gegen Ende des Zweiten Weltkriegs im Bombenhagel zerstört wurde.
Dagmar Klein hat noch vieles mehr zusammengetragen, was im Stadtbild an die Reichsgründung und deren wichtigste Protagonisten erinnert. Etwa ein stark überwucherter Gedenkstein, der im Botanischen Garten drei Studenten ehrt, die zu den Kriegsfreiwilligen gehörten. Insgesamt sieben Offiziere und 180 Soldaten des Gießener Regiments ließen in dem Feldzug ihr Leben. Einige von ihnen liegen auf dem Alten Friedhof begraben. Darunter auch der in Frankreich gestorbene Offizier Georg Gail, der in einer aufwändig gestalteten Familiengrabstätte der Gails ruht.
Französische Brocken
Auch eine heitere Anekdote hat Dagmar Klein in ihren Beitrag aufgenommen. Nachdem 17 gefangen genommene französische Offiziere in Gießen angekommen waren, erhielten sie die Erlaubnis, sich bis abends um 21 Uhr frei in der Stadt zu bewegen. Der Gießener Anzeiger vom 16. November 1870 rügt darauf die Bevölkerung. Viele seien glücklich, ihre paar französischen Brocken an den Mann zu bringen. Sie ließen sich dadurch zur devotesten Unterwürfigkeit verleiten. Man solle den Offizieren stattdessen ein "höfliches, würdiges Benehmen zeigen, aber sie nicht hätscheln und peschen und ihnen den Zutritt in die Familien gestatten". Über manche Ansichten wie diese ist die Zeit glücklicherweise hinweggegangen.
*
Die umfangreichen Bände 2019 und 2020 aus der Reihe "Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins" sind im Stadtarchiv erhältlich. Weitere Infos im Internet unter ohg-giessen.de.