Die Volkshochschule Gießen und das Regierungspräsidium bieten seit Ende August eine Bildungs- und Berufswegeberatung für Migranten an, um diese schneller in Lohn und Brot zu bringen.
Von Ingo Berghöfer
Alle zwei Wochen bietet Abderrahim En-Nosse in der Erstaufnahmeeinrichtung eine erste Berufsberatung für neu in Gießen angekommene Flüchtlinge. Foto: Berghöfer
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GIESSEN - Der eine ist Arzt, der andere will es werden. Nur einer von beiden wird sich wohl seinen Berufswunsch erfüllen können. Das Spektrum der Wünsche und Qualifikationen ist so breit gefächert und vielfältig wie die Menschen, die mit dem Wunsch nach einem besseren Leben nach Deutschland gekommen sind und jetzt in der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge (HEAE) in der Rödgener Straße auf die Anerkennung ihres Asylantrags hoffen. Um diese Wartezeit zwischen Hoffen und Bangen sinnvoll zu nutzen, bieten die Volkshochschule Gießen (VHS) und das Regierungspräsidium Gießen (RP) nun eine Bildungs- und Berufswegeberatung für Migranten an. Der zuständige Abteilungsleiter beim RP, Manfred Becker, Stadträtin Astrid Eibelshäuser und die stellvertretende Leiterin der VHS, Birgit Lesch-König, erläutern, worum es dabei geht.
Abderrahim En-Nosse ist nicht nur islamischer Vorsitzender der Christlich-Islamischen Gesellschaft Gießen, sondern auch zertifizierter Bildungsberater der VHS in Gießen. Jeden zweiten Montag berät er die Neuankömmlinge über Ausbildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten, aber auch über die Anerkennung ausländischer Abschlüsse und die Möglichkeiten zur Nachqualifizierung im Beruf. Kurz: Er will herausfinden, was jeder im eigenen "Kompetenzkoffer" mitgebracht hat.
"Ohne Deutsch geht nichts"
Ganz vorne aber steht, und das macht En-Nosse sehr deutlich, der Erwerb der deutschen Sprache. "Ohne Deutsch geht gar nichts. Sprache ist der Schlüssel zum Erreichen aller Existenzwünsche", betont der Lehrer, der selbst Deutsch, Arabisch, Englisch und Französisch spricht. Umso ernüchternder seien die kurz zuvor bekannt gewordenen Ergebnisse einer gemeinsamen Untersuchung des Mannheimer Goethe-Instituts und des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache, nach der weniger als die Hälfte aller Migranten ihren Sprachkurs überhaupt beenden würden. Von denen, die bis zum Ende durchhielten, seien gerade mal zwei Prozent "klar dem B1-Niveau" zuzurechnen. Sprecher auf B1-Niveau sollten in der Lage sein, so die Definition, "Interessen, Hoffnungen, Pläne und Wünsche auf einfache, aber zusammenhängende Weise zu schildern". Auch kurze Erklärungen beziehungsweise Begründungen können dann gegeben werden. Der Leiter des Mannheimer Goethe-Instituts, Dr. Ingo Schöningh, forderte als Konsequenz, das angestrebte Sprachziel von Integrationskursen von B1 auf das niedrigschwelligere A2 zu senken.
Für Abderrahim En-Nosse ist das keine Lösung: "A2 hat vielleicht in den 1970er Jahren für die erste Generation der Gastarbeiter gereicht. In einer komplexen und kommunikationsintensiven Arbeitswelt ist aber selbst B1 im Grunde nicht mehr ausreichend." Um aber wirklich in Deutschland anzukommen, betont er, müsse man sich nicht nur kulturell und sozial integrieren, sondern vor allem auch ökonomisch.
An bislang sieben Tagen hat der Lehrer mittlerweile 65 Migranten beraten; die Warteliste ist lang. Die Menschen, denen der Berater gegenüber sitzt, bringen die unterschiedlichsten Bildungshintergründe mit. Da ist der junge Mann, der so gerne Arzte werden würde. Doch nach der Beratung steht fest, dass dieser Wunsch Traum bleiben wird, denn er dürfte nach En-Nosses Einschätzung froh sein, wenn er den Hauptschulabschluss schafft. Ganz anders der Ältere, der später das Büro betritt. Er ist Kardiologe mit 20-jähriger Berufserfahrung. Dem Türken dürfte es dementsprechend leicht fallen, in Deutschland wieder einer angemessenen Tätigkeit nachzugehen.
Hohe Akzeptanz in Gießen
"Wir fragen hier nicht nach den Fluchtgründen", sagt Manfred Becker, "uns geht es allein um die schnellstmögliche Erfassung aller beruflichen Qualifikationen noch vor den Jobcentern, um nach einer eventuellen Anerkennung keine Zeit zu verlieren." Erleichtert werde die gute Zusammenarbeit mit der VHS auch durch die hohe Akzeptanz, die die HEAE in der Stadt Gießen genieße, betont Becker. "Das ist beileibe nicht in allen Städten mit solchen Einrichtungen der Fall." Sollte sich in einem Gespräch zeigen, dass die betreffende Person ein Studium begonnen hat, ergänzt Eva-Maria Friedrich, Dezernentin für Integration beim RP Gießen, dann könne man nach einem positiven Asylbescheid dafür sorgen, dass sie einer Universitätsstadt zugewiesen wird.
Die 22-jährige Bayan aus Syrien etwa hat Kunstgeschichte studiert und musste ihr Heimatland aufgrund des eskalierenden Bürgerkriegs ein Jahr vor dem Studienabschluss verlassen. Sie hat erkannt, dass der Bedarf an Kunstwissenschaftlern in Deutschland nicht allzu groß ist. Sie möchte jetzt als Erzieherin arbeiten, nachdem ihr der Ausbildungsberater gesagt hat, dass in Deutschland mindestens 100 000 Pädagogen in den Kitas fehlen würden. "Ich gebe hier Hilfestellungen, um die Situation in Deutschland realistisch zu sehen", betont En-Nosse. Das gilt auch für Bayans neun Jahre ältere Landsfrau Heba, die vor ihrer Flucht nach Deutschland in Jordanien für eine Nichtregierungsorganisation gearbeitet hat und jetzt in Deutschland eine Anstellung als "Frauenrechtlerin" sucht.