Erneut demonstrieren mehr als 100 Radfahrer für mehr Fahrradstraßen in Gießen. Die Teilnehmer sind überzeugt: „Autos machen die Innenstadt tot.“
Von Rüdiger Schäfer
Die Forderung aus hundert Kehlen schallt hoch zu den Ausschussmitgliedern im Stadtverordneten-Sitzungssaal.
(Foto: Schäfer)
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GIESSEN - GIESSEN. Klingelingeling, „Gießen – autofrei!“, klingelingeling. Es ist 18.55 Uhr am Dienstagabend. Aus mehr als 100 Kehlen wird das skandiert. Und Fahrradklingeln werden erbarmungslos bearbeitet. Nach einer Demofahrt sind sie, all die vielen Radler, rechtzeitig vor dem Rathaus angekommen. Rechtzeitig deshalb, weil genau in fünf Minuten die Ausschusssitzung beginnt, in der es um den Bürgerantrag für mehr Fahrradstraßen in der Stadt geht. „Schreit es so laut, dass es da oben die Fenster zum Stadtverordnetensitzungssaal durchdringt!“ Till Hentschels Aufforderung wird nach Leibeskräften befolgt.
Hentschel, Leiter der Demo, informierte beim Start der Fahrradfahrt am Kirchenplatz, dass jeder Gießener jährlich 7,0 bis 7,1 Tonnen CO2 ausstößt. „Das kommt auch dadurch, dass so viele Autos über den Anlagenring donnern.“ Erneut gebe es Ängste, den Autoverkehr zu reduzieren. „Erneut deshalb, weil das so war, als vor mehr als einem halben Jahrhundert die Autos aus dem Seltersweg verbannt werden sollten. Und weil die Plockstraße dereinst autofrei werden sollte.“ Heute rieben sich die Gewerbetreibenden die Hände ob der zugenommenen Attraktivität des Bereiches vor ihren Geschäften. „Autos, die unsere Straßen verpesten, das wird in Zukunft Schnee von gestern sein“, prophezeit er.
Los geht die Demofahrt von mehr als 100 Radlern über die Georg-Schlosser-Straße zum Neustädter Tor, durch die Neustadt, über Marktplatz, Schulstraße, Neue Bäue und sodann den gesamten Anlagenring bis wiederum zum Berliner Platz. Auch eine Handvoll Teilnehmer ohne einen rollenden Untersatz beteiligen sich an der Demo. Auf Schusters Rappen, zu Fuß, bewältigen sie im Joggingtempo die gesamte Strecke.
Am Selterstor, direkt neben dem Schuhhaus Darré, stoppt der Radlertross. Jörg Bergstedt, Verkehrswendeaktivist aus der Saasener Projektwerkstatt, ergreift das Mikrofon und erläutert, wie der Verkehrsstrom am Elefantenklo künftig gestaltet sein soll. Und dann gibt er sich verärgert. „Dass gerade von den Geschäften hier unser Anliegen bekämpft wird, ist überhaupt nicht zu verstehen.“ Seine Enttäuschung dringt durch. Hatte doch Heinz-Jörg Ebert, Geschäftsführer des Hauses Darré und Vorsitzender des BID Seltersweg, am Vormittag postuliert, dass ein „angestrebter Verkehrsversuch“ ein „Wahnsinnsgeld“ koste und in der derzeit äußerst angespannten Situation dem ohnehin dahinliegenden Einzelhandel den Rest gebe. „Nett, wenn das politisch auch noch forciert wird“, so Eberts sarkastischer Kommentar. Einer Einladung der Demo-Leitung zum Dialog am Selterstor ist er offensichtlich nicht gefolgt.
Bergstedt holt zum Rundschlag ob all der Befürchtungen der innerstädtischen Geschäftsleute aus. „Schon viele Städte haben erkannt, dass ein eingeschränkter Autoverkehr eine City tatsächlich lebenswerter macht.“ Davon profitiere insbesondere der Handel. Bergstedts Aufruf an die Geschäftsleute: „Stellt euch hinter uns! Es kann euch nichts Besseres passieren. Denn Autos machen die Innenstadt tot.“ Fußgänger, Radfahrer und auch die Straßenbahn sieht der Politaktivist als zukünftige nachhaltige Mobilitäten, die mit aller Macht zu fördern sind.