"Chemical Revolution": Bühne frei für juristisches Spektakel

Aus der Kongresshalle in Gießen ist am Mittwoch nach wochenlangen Vorbereitungen der "Externe Sitzungssaal 2" des Landgerichts Gießen geworden. Foto: Mosel

In Gießen hat der Prozess um den "deutschlandweit größten Drogen-Onlineshop" begonnen. Gebunkert und verpackt wurden die Drogen unter anderem auch in Ortenberg.

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. Giessen/Ortenberg. Die ungewöhnlich hohe Dichte an Polizeibeamten ist schon von Weitem das Indiz für ein besonderes Ereignis. Auch wenn das Leuchtband über dem Eingang nicht wie sonst üblich ein Show-Event anpreist, sondern lediglich das Datum verrät. Und tatsächlich wird sich an diesem heißen Augusttag der schwere rote Vorhang im großen Saal nicht heben. Ein eindrucksvolles Spektakel aber gibt es dennoch zu erleben. Aus der Kongresshalle wird nämlich nach wochenlangen Vorbereitungen am Morgen der "Externe Sitzungssaal 2" des Landgerichts Gießen. Die große Bühne gehört dabei fast allein den drei Berufsrichtern und zwei Schöffinnen der 9. Strafkammer. Über den Blick von oben auf das Geschehen darf sich ansonsten nur noch die Protokollführerin freuen.

Zu ihren Füßen, die hinter hölzernen Trennwänden versteckt sind, sitzen zwei Ersatzschöffen und ein Ersatzrichter. Auf dem Parkett nehmen zudem die übrigen Prozessbeteiligten ihren Platz ein: direkt vor den Türen zum Foyer zwei Staatsanwälte, der psychiatrische Gutachter sowie zwei Justizbeamte. Ihnen gegenüber - mit reichlich Distanz sowie Tisch und Stuhl für Zeugen als Puffer - versammeln sich rund um allerhand Plexiglasscheiben sieben Angeklagte, ein Dutzend Verteidiger sowie drei Dolmetscher für Niederländisch und Polnisch. Für Medienvertreter und Zuschauer ist die Empore reserviert. Selbstredend alle mit festgelegtem Sicherheitsabstand.

Auf dem "Programm" steht der Prozess gegen die "mutmaßlichen Verantwortlichen des deutschlandweit größten Drogen-Onlineshops" mit reichlich Fortsetzungsterminen. Unter dem Namen "Chemical Revolution" sollen insgesamt elf Männer, die sich wohl überhaupt nicht persönlich kannten, als internationale Bande und mit verteilten Rollen im Internet sowie im anonymen Darknet einen florierenden Handel aufgebaut haben. Dafür sollen zwischen September 2014 und Februar 2019 zentnerweise Drogen aus den Niederlanden nach Deutschland gebracht worden sein. Das Angebot war offenbar sehr umfangreich: 130 Kilo Amphetamine und sechs Kilo Kokain, Zehntausende Ecstasy-Pillen und 42 Kilo Cannabis, ein Kilogramm Heroin sowie "neue psychoaktive Stoffe". Gebunkert und verpackt wurden die Drogen laut Anklage an verschiedenen Orten in der Bundesrepublik - unter anderem in Ortenberg. Und allein aus diesem Tatort in der Wetterau ergibt sich die Zuständigkeit des Landgerichts Gießen.

Insgesamt gehen die Strafverfolger von 320 Taten in unterschiedlichen Konstellationen aus. In der ersten Hauptverhandlung im "Externen Sitzungssaal 2" dreht sich aber alles nur um neun Vorfälle, an denen wiederum sieben Angeklagte irgendwie beteiligt gewesen sein sollen. Im Januar 2018 war ein 30-Jähriger aus Brandenburg festgenommen worden, der - wie er in der Kongresshalle selbst berichtet - für den Versand der Drogen verantwortlich war. Danach war "Chemical Revolution" stillgelegt und der Online-Shop erst ab April 2018 von den beiden Hauptangeklagten mit vier anderen "Mitarbeitern" wiedereröffnet worden sein. Darum wird es erst in einem zweiten Prozess gehen. Wegen der eingeschränkten Kapazitäten aufgrund der Corona-Pandemie hat die 9. Strafkammer dieses Verfahren abgetrennt. Die Taten zehn bis 320 sollen sich zwar nach Angaben des Vorsitzenden Dr. Klaus Bergmann "ausschließlich in Hamburg" zugetragen haben. Dennoch gibt es für diese spätere Auflage "keine Änderung an der Zuständigkeit". Im Klartext: Auch dann wird in Gießen verhandelt.

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Doch bevor das Gericht um 9.25 Uhr die wenigen Stufen zur Bühne erklimmt, haben zunächst vier Angeklagte ihren Auftritt. Mit angelegten Fußfesseln und Handschellen tippeln sie einmal quer übers Parkett zu ihren Plätzen, sekundiert jeweils von zwei Polizeibeamten. Dennoch gelingt es zwei von ihnen, das Gesicht hinter einem geöffneten Aktenordner zu verbergen, um den Fotoapparaten und Filmkameras zu entkommen. Ihre drei angeblichen Komplizen haben sich da bereits neben ihren Verteidigern niedergelassen. Die Haftbefehle gegen sie sind schon vor Monaten außer Vollzug gesetzt worden.

"Kopf der Bande" soll ein 27-jähriger Deutscher sein, der zuletzt auf Mallorca gelebt hat. Seine Augen richtet er immer wieder zur Empore, auf der ihm seine Verlobte sehnsüchtige Blicke zuwirft. Mit ihm soll ein Niederländer im gesamten Zeitraum aktiv und für die Beschaffung der "Betäubungsmittel in nicht geringer Menge" verantwortlich gewesen sein. Der 36-Jährige sendet seiner Ehefrau einen Handkuss und zeigt sich gegenüber Freunden im Zuschauerraum mit aufgerecktem Daumen siegesgewiss. Alle sieben Angeklagten werden wohl Angaben machen - noch aber wird ob des perfekten Zeitpunkts dafür taktiert. Der 30-Jährige aus Brandenburg möchte sich indes sofort äußern und hat auch schon bei der Polizei "Hintermänner" benannt - von denen er allenfalls Spitznamen kenne.

Beim "Herumtreiben auf Internetplattformen" will er etliche Leute kennengelernt haben und "in Betrugsdelikte" hineingezogen worden sein. 2017 sei dann "eine Person auf mich zugekommen", die wissen wollte, ob er sich an einem Online-Drogenshop beteiligen möchte. Das freie Reden fällt dem Mann mit schütterem dunklen Haar und Brille schwer, doch auf Nachfrage des Vorsitzenden räumt er ein, dass er nur einige Tage Bedenkzeit gebraucht habe, um den Plan mit "Joko" - das ist nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft der Hauptangeklagte - das lukrative Geschäft zu starten. Ihm sei der Stoff geliefert worden, er habe die Garage sowie mehrere Wohnungen - eben auch in Ortenberg - angemietet, dort die Bestellungen abgearbeitet und die Lieferungen zur Post gebracht. Der Prozess wird bereits heute fortgesetzt.