Werther zum Mitfiebern: Durchschlagender Abschluss der Wetzlarer Festspiele
Die Wetzlarer Festspiele 2019 finden mit einem Goethe-Klassiker einen großartigen Abschluss. Und die Gesamtbilanz kann sich ebenfalls sehen lassen, denn in diesem Jahr besuchten insgesamt 16 160 Zuschauer die Vorstellungen.
Foto: Tölle
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WETZLAR - "Goethes Klassiker für eine neue Generation" - wie soll das funktionieren? #Werther im Zeitalter der Social Media? Einen Briefroman zu dramatisieren ist möglich - aber wie soll der ethische Konflikt des 18. Jahrhunderts in eine heutige Gesellschaft übertragen werden, die es als Errungenschaft ansieht, gerade diese Normen über Bord geworfen zu haben?
Nun: es geht. Und wie!
Ein spartanisch ausgestattetes Bühnenbild, lediglich ein überdimensionales Smartphone und ein Camping-Liegestuhl konzentrieren alles auf den einen Schauspieler. Im Gegensatz zum angekündigten Josef Ellers betrat der junge österreichische Schauspieler Marius Zernatto die Bühne und spielte den Werther facettenreich, jung, verliebt, eifersüchtig, zornig, niedergeschlagen, tränenreich - eben mit dem ganzen Pathos, was jeden Leser seit 1774 an diesem Roman reizt. Und - dieser alte Text wirkt auch unverändert, ohne sprachliches Update.
Zernatto/Werther bezieht den Zuhörer mit ein, informiert von seiner ersten Begegnung mit Lotte, berichtet vom Tanz, hat Lottes Bild auf seinem Smartphone-Display, tauscht Text- und Sprachnachrichten mit ihr aus. Zwar weiß er, dass Lotte so gut wie "vergeben" ist, aber zunächst bleibt Albert eine ferne Person und Werther ein glücklicher Mensch. Das ändert sich schnell, Werther versteht Albert als Konkurrenten, doch dieser will ihm ein Freund sein. Werther äußert erste Selbstmordabsichten, Lotte ist entsetzt, Werther rudert zurück.
ENDE DER SPIELZEIT 2019
Mit dem "Werther"-Abend endete die Spielzeit 2019. Und die Bilanz kann sich sehen lassen, denn in diesem Jahr besuchten insgesamt 16 160 Zuschauer die Vorstellungen. Im Vorjahr waren es 14 963, so Geschäftsführer Miguel Marcos Navas auf Nachfrage.
Alles wird zusammenhängend erzählt, kurze Umkleidepausen mit passender Musik ("Forever young") unterlegt, Werther tanzt akrobatisch und verausgabend - kurzatmig durch die ganze Stunde, eben 100 Prozent Leidenschaft. Er leidet an der Leidenschaft, auch, dass ihm ein möglicher Selbstmord als Schwäche ausgelegt wird. Er bekämpft seine Einsamkeit mit einer weiteren Beziehung, mit Alkohol, aber dieser Ausweg wird höhnisch mit der Musik des "happy together" kommentiert.
Das Hochzeitsbild auf seinem Smartphone stürzt ihn endgültig in die Krise, er schreit seine Wut heraus, sein Verlangen, seine Überzeugung, dass doch das Zugreifen ein natürlicher Trieb sei, dem man nachgeben müsse. Er schreit nach Lotte in seiner Einsamkeit - und o Wunder, da steht sie vor ihm (gespielt von der Regisseurin Helena Scheuba) wie der Deus ex machina, versucht Werther zu erreichen, der keine Erklärungen will, er bekommt sogar eine Umarmung und einen Kuss - dann geht Lotte und Werther ist einsamer als zuvor. Die Qual benötigt nicht einmal den finalen Schuss.
Großartiges Theater, begeisternde Schauspieler und - natürlich - ein begeisternder Text, der den jungen Schauspieler vom ersten bis zum letzten Moment kurzatmig und drängend macht. Was für ein Abschluss der Festspiele!