Ugur Sahin, Chef des Mainzer Unternehmens, über die Entwicklung eines Medikaments, auf das die Welt wartet, und die Frage, ob Biontech bei der Entwicklung noch scheitern könnte.
MAINZ. Sehr große Hoffnungen ruhen in diesen Tagen auf dem Unternehmen Biontech und seinem Chef Ugur Sahin. Im Interview gibt der 55-Jährige einen Einblick in seine Arbeit – und einen Ausblick, wie und wann ein Impfstoff gegen das Corona-Virus helfen könnte.
Herr Professor Sahin, Sie haben die Ausrichtung Ihres Unternehmens schon im Januar komplett gedreht: von der Krebstherapie hin zur Impfstoffentwicklung. Zu einer Zeit, als noch kaum jemand verstanden hat, was da in einer chinesischen Stadt namens Wuhan passiert. Sind Sie ein Hellseher?
Nein. Ich lese nur sehr gern wissenschaftliche Literatur und mache mir Gedanken darüber, was das für unsere Arbeit bedeutet. Ende Januar kam eine wissenschaftliche Arbeit heraus, die einen Ausbruch von Infektionen innerhalb einer Familie charakterisiert hat, die in Wuhan war. Ich kam zum Schluss, dass sich das zu einer Pandemie entwickeln wird. Und dementsprechend sahen wir uns auch verpflichtet, hier etwas zu tun, weil wir die Grundvoraussetzungen dafür haben, Impfstoffe zu entwickeln.
You can read the whole interview in English here.
Sie haben das Projekt von Anfang an „Lichtgeschwindigkeit“ genannt. Woher haben Sie die Zuversicht genommen?
Es ging um eine gewisse Einstellung. Impfstoff-Entwicklungen bedürfen eigentlich sehr viel Zeit. Die Frage war natürlich, wie können wir einen Impfstoff innerhalb eines Jahres entwickeln und nicht erst 2023, 2024? Die einzige Möglichkeit ist, auf alles Nebensächliche zu verzichten, was nicht notwendig ist, und Wartezeiten und Leerläufe zu reduzieren. Und damit wir diese Geisteshaltung im Team und auch bei allen anderen etablieren konnten, haben wir diesen Begriff gewählt: Lichtgeschwindigkeit. Licht steht niemals, ist immer in Bewegung.#
Jetzt wartet die Welt sehnlichst auf einen Impfstoff. Wie kommen Sie mit dem Druck zurecht, der auf Ihnen und Ihrem Unternehmen lastet?
Wir sind Arzneimittelentwickler, da hat man immer eine sehr große Verantwortung. Es spielt keine große Rolle, ob das Medikament, das man herstellt, für einen einzelnen Patienten ist oder für eine sehr viel größere Gruppe. Man fokussiert sich auf die Arbeit. Im Täglichen hat man gar keine Möglichkeit, sich damit wirklich auseinanderzusetzen.
Das komplette Interview im Video
Erhöhen wir jetzt doch noch mal den Druck und stellen gleich die Preisfrage: Wann kommt denn der Impfstoff? Wann erwarten Sie die Zulassung?
Eine ganz wichtige, notwendige Voraussetzung ist der Nachweis der Verträglichkeit des Impfstoffs in einer sehr großen Gruppe von getesteten Personen. Das erfolgt in sogenannten Phase-III-Studien. Zweitens muss man nachweisen, dass der Impfstoff seinen Zweck erfüllt und in der Lage ist, eine Erkrankung zu verhindern. Das ist die Wirksamkeit. Wir erwarten bis Anfang November die ersten Testdaten. Es wird nicht mehr lange dauern, bis wir sehen können, ob der Impfstoff in der Lage sein könnte zu schützen.
Laut „Times“ geht die britische Regierung davon aus, dass der Impfstoff noch vor Weihnachten zur Verfügung steht. Bundesgesundheitsminister Spahn sagt auch, dass dies kurz bevorstehe.
Bis Mitte November werden wir die Daten zur Wirksamkeit und Verträglichkeit haben. Wenn sie positiv sind, werden wir die Unterlagen bei der FDA (US-Zulassungsbehörde, d. Red.) einreichen. Wir haben mit der Einreichung der Daten zur Durchsicht bereits in Europa angefangen. Die Behörden könnten über eine Notfallzulassung in den USA oder eine bedingte Zulassung in der EU entscheiden. Die nächste Frage ist: Können wir Impfstoff liefern? Wir haben bereits damit angefangen zu produzieren. Er lagert bei uns, ist in Qualitätskontrollen. Die Freigabe wird nur dann erfolgen, wenn tatsächlich eine Genehmigung vorliegt. Und all diese Schritte könnten prinzipiell noch in diesem Jahr erfolgen, das obliegt aber den Behörden.
Die Skepsis gegenüber dieser Geschwindigkeit rührt auch daher, dass die langfristigen Folgen noch nicht bekannt sind.
Wir untersuchen diesen Impfstoff bei bis zu 44 000 Probanden. In der zweiten Novemberhälfte werden wir für einen großen Teil der Geimpften Verträglichkeitsdaten für zwei Monate haben. Die meisten Nebenwirkungen bei einem Impfstoff gibt es generell in den ersten Tagen sowie im Zeitraum bis zu sechs Wochen. Alles, was danach kommt, muss natürlich auch untersucht werden. Wir werden zum Beispiel Probanden zwei Jahre lang weiterverfolgen. Das ist das System der „Pharmakovigilanz“. Das stellt sicher, dass jedes Medikament auch nach der Zulassung weiter überprüft wird.
Geht da nicht doch Schnelligkeit vor Gründlichkeit?
Sicherlich nicht, wir lassen nichts aus. Ich vergleiche das gerne mit dem Flughafen. Da bittet jemand darum, schneller abgefertigt zu werden, weil er oder sie den Flug sonst verpassen könnte. Er wird durch das Personal zu den Kontrollen geführt. Jede Kontrolle wird gemacht, aber man steht nicht in der Warteschlange. Wir sind zum Beispiel mit der EMA (Europäische Arzneimittelagentur, d. Red.) in einem „rollierenden Verfahren“ zur Vorbereitung für eine mögliche Zulassung. Das bedeutet: Wenn wir neue Daten haben, reichen wir sie ein, damit sie gleich überprüft werden können.
Wenn der Impfstoff da ist: Wie oft muss man zur Impfung?
Wie lange die Impfwirkung anhalten wird, wissen wir noch nicht. Wir gehen davon aus, dass die Immunität ein Jahr anhalten könnte, vielleicht sogar länger. Das müssen die Daten zeigen.
Hand aufs Herz: Haben Sie sich den Impfstoff schon selber setzen lassen?
Nein. Die Richtlinien für klinische Studien geben vor, wer den Impfstoff bekommen darf. Dazu zählen sicherlich nicht die Leute, die ihn entwickeln. Ich würde ihn gerne haben, aber ich darf es noch nicht.
Viele andere wollen ihn auch. Zum Beispiel die Risikogruppen. Wenn die erst mal geimpft sind – können wir dann die Einschränkungen aufheben?
Ich denke, dass die Verfügbarkeit wirksamer Impfstoffe uns bei den wichtigsten Problemen, die wir im Moment haben, sehr schnell helfen kann. Wir müssen zunächst sicherstellen, dass diejenigen, die das größte Risiko für eine schwere Infektion haben, den Impfstoff als Erste bekommen. Ich gehe davon aus, dass wir ab Mitte nächsten Jahres vielleicht nicht zu einem ganz normalen, aber doch zu einem normalisierten Leben zurückkommen könnten. Der Erfolg hängt davon ab, dass die Impfstoffe funktionieren und dass mehrere Unternehmen in den ersten Monaten 2021 Impfstoffe verfügbar machen können.
Sie meinen auch Unternehmen in anderen Ländern. In den USA hat Präsident Donald Trump in seinem Wahlkampf den Impfstoff zum Thema gemacht. Das setzt ihren Partner dort unter Druck, den Pharmakonzern Pfizer…
Diese Partnerschaft ist sehr wichtig für uns, weil wir als kleineres Unternehmen zum Beispiel keinen weltweiten Vertrieb haben. Eine der Grundvoraussetzungen war, dass ganz klar ist, dass es unser Impfstoff ist. Ein Biontech-Impfstoff, der von Pfizer mitentwickelt wird. Entsprechend sind die Verträge auch so, dass keiner ohne den anderen einfach etwas entscheiden kann. Wir haben erwartet, dass die eine oder die andere Partei in eine schwierige politische Situation kommen könnte. Aber wir haben mehrmals deutlich gemacht: Die Unternehmen beugen sich diesem Druck nicht.
Biontech ist von einem Start-up zu einem der wertvollsten Unternehmen in Deutschland geworden. Eine Marktkapitalisierung von fast 17 Milliarden Euro, knapp viermal so viel wie die Lufthansa. Wird Ihnen da nicht schwindlig?
Nein. Unser Ziel ist ja nicht, eine maximale Marktkapitalisierung zu erreichen. Sondern wir haben Biontech gegründet, weil wir ein großes globales Pharmaunternehmen aufbauen wollten. Wir möchten die Art und Weise, wie Krebs therapiert wird, revolutionieren. Und wir wissen, dass bestimmte Probleme nur durch Innovation gelöst werden können. Darauf liegt unser Fokus.
Sind Sie bei der Krebstherapie zurückgeworfen worden, weil Sie alles auf den Impfstoff konzentrieren?
Wir haben durch Corona etwas Zeit verloren. Nicht, weil wir uns auf einen Impfstoff fokussiert haben, sondern weil zum Beispiel keine weiteren Patienten in die Studie aufgenommen werden konnten. Insgesamt kommen wir aber auch hier voran.
Wie lange kann der Chef eines solchen Unternehmens noch ein Wissenschaftler sein?
Das kann ich Ihnen nicht sagen. Wir sind ein Unternehmen, bei dem derzeit 90 Prozent des Erfolgs durch die Wissenschaft und die medizinische Entwicklung entsteht. Deshalb steht an der Unternehmensspitze ein Wissenschaftler.
Zum Abschluss die wichtigste Frage: Kann Biontech bei der Impfstoffentwicklung noch scheitern?
Ja, per Definition, weil das Ergebnis unserer klinischen Studie auch negativ sein könnte. Unabhängig davon, was wir bisher beobachtet haben. Wir sind natürlich sehr ermutigt durch die bisherigen Ergebnisse, aber am Ende zählt die medizinische, biologische Realität. Wir werden in zwei Wochen mehr wissen.