Die Fahrgeschäfte fahren nicht mehr, Konzerte gibt es nur noch digital. Doch was macht das mit den Menschen, wenn fast alle Volksfeste abgesagt werden?
Von Sascha Kircher
Redakteur Politik
So wie das Hochheimer Weinfest fallen in diesem Jahr viele Veranstaltungen aus.
(Archivfoto: Vollformat/Volker Dziemballa)
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REGION - Kein Open Ohr Festival an Pfingsten in Mainz. Keine Rheingauer Weinwoche im August in Wiesbaden. Kein Ochsenfest in Wetzlar, in Darmstadt weder Heiner- noch Schlossgrabenfest. Kein Rock am Ring! Kein Frankfurter Museumsuferfest!! Keine Wiesn!!! Die Schneise, die das Coronavirus durch den Veranstaltungskalender fräst, ist brutal.
Das am Montag abgesagte Münchner Oktoberfest war zuletzt im vergangenen Jahrhundert dem Zweiten Weltkrieg und seinen Auswirkungen zum Opfer gefallen. „Seit diesem Zeitpunkt musste das Oktoberfest nie wieder abgesagt werden — wir hoffen, dass das so bleibt“, hieß es bis zuletzt auf der Wiesn-Website. Seit Montag mit dem Hinweis: „Das Oktoberfest 2020 findet aufgrund der Corona-Pandemie nicht statt.“ Immerhin: Für das Wormser Backfischfest besteht noch (vage) Hoffnung.
Das Fest als Abkehr von Zwängen der Arbeitswelt
Was macht das eigentlich mit uns, wenn wir uns nicht mehr zwanglos treffen, nicht mehr gemeinsam feiern, den Alltag vergessen und uns ein Gläschen genehmigen können? (Womöglich auch eins zu viel.) Für Veranstalter, Künstler, Agenturen, für Messebau- und Securityfirmen, Caterer und andere, die mit der Feierei ihren Lebensunterhalt verdienen, ist das unbestritten eine veritable Katastrophe. Doch was ist eigentlich mit uns, den begeisterten Festival-, Volksfest- und Partybesuchern?
So wie das Hochheimer Weinfest fallen in diesem Jahr viele Veranstaltungen aus. Archivfoto: Vollformat/Volker Dziemballa
Menschen drängen sich dicht an dicht auf der Frankfurter Dippemess. Sie wurde wegen des Coronavirus von Anfang April auf Mitte September verschoben. Archivfoto: dpa
2019 wurde auf der Münchner Theresienwiese noch gefeiert – für dieses Jahr wurde das Oktoberfest bereits abgesagt. Archivfoto: dpa
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Beispiel Musikfestival: Es gibt Leute, die behaupten, wer nie ein solches Festival besucht hat, in einem zugigen Igluzelt „übernachtet“, sich ausschließlich von Ravioli und Dosenbier ernährt und drei Tage dieselben Klamotten getragen hat – der hat schlicht nicht gelebt. Zum Glück haben wir das in unserer Jugend (bei Männern dauert die bekanntlich ein paar Jahre länger) ausgiebig genutzt – nicht selten mit mehrtägiger Resozialisierungsphase. Wann man diesen aus den Zutaten Schmutz, Schweiß und Glückseligkeit gebrauten Eskapismus nämlich wieder ungeniert zelebrieren dürfen wird, steht in den Sternen.
Ähnlich verhält es sich mit Veranstaltungen wie dem überregional renommierten Rheingau Musik Festival (RMF), natürlich abzüglich Schmutz, Igluzelt und Dosenbier. Wobei: Alkohol wird freilich auch zu erbaulichen Klassik-, Jazz- und Swing-Konzerten ausgeschenkt.
ES HAGELTE ABSAGEN IN HESSEN
Die meisten großen Veranstaltungen der Region wurden bereits abgesagt. Ein Überblick:
SÜDHESSEN
Dicht gedrängt geht es üblicherweise auf dem Darmstädter Schlossgrabenfest zu. Bis zu 400 000 Besucher wurden vom 28. bis 31. Mai erwartet. Auch die zweite Darmstädter Mega-Veranstaltung, das Heinerfest (2. bis 6. Juli) mit bis zu 700 000 Besuchern, wurde bereits abgesagt.
Dem Coronavirus fallen auch der Michelstädter Bienenmarkt (29. Mai bis 1. Juni), der Heppenheimer Weinmarkt (26. Juni bis 5. Juli), das Klassikertreffen in Rüsselsheim (28. Juni), der Erbacher Wiesenmarkt (17. bis 26. Juli) und das Gernsheimer Fischerfest (30. Juli bis 3. August) zum Opfer.
REGION WIESBADEN
Die Reiter pausieren: Das Wiesbadener Pfingstturnier (29. Mai bis 1. Juni) im Biebricher Schlosspark fällt aus. Abgesagt wurden in der hessischen Landeshauptstadt zudem das Theatrium (12./13. Juni), das Schiersteiner Hafenfest (10. bis 13. Juli), die Rheingauer Weinwoche (14. bis 23. August) und das Stadtfest (25. bis 27. September).
Auch das Hochheimer Weinfest (10. bis 13. Juli) ist abgesagt.
MITTELHESSEN
Auch in Mittelhessen mussten die Veranstalter schweren Herzens zahlreiche große Feste streichen – darunter der Gladenbacher Kirschenmarkt (2. bis 5. Juli), das Wetzlarer Straßenmusikfestival (2. bis 5. Mai), das 66. Ochsenfest in Wetzlar (11. bis 16. Juni), die „Golden Oldies“ in Wettenberg (24. bis 26. Juli), das Lahnuferfest in Gießen (19. bis 21. Juni) und das Gießener Stadtfest (14. bis 16. August). Der ursprünglich für Ende August geplante Gießener Kultursommer wurde auf 2021 verschoben.
Grosse Feste in Rheinland-Pfalz
Wegen der Corona-Krise sind auch schon eine ganze Reihe an großen und prominenten Festen in Rheinland-Pfalz abgesagt worden. Im Folgenden eine Auswahl – mit den üblichen Besucherzahlen:
Am 25. und 26. April hätte mit etwa 100 000 Besuchern der Bad Kreuznacher Automobilsalon auf der Pfingstwiese stattgefunden.
Auch der „Gutenberg Marathon“, der am 10. Mai durch die Mainzer Innenstadt geführt hätte, fiel dem Coronavirus zum Opfer.
Bis zu 80 000 Besucher hätten sich vom 30. Mai bis 7. Juni auf dem Wormser Pfingstmarkt getummelt.
Zur Mainzer Johannisnacht (19. bis 22. Juni) waren eine halbe Million Besucher in der Innenstadt erwartet worden.
Der Wormser Mittelaltermarkt Spectaculum hätte vom 22. bis 24. Mai stattgefunden. Die erwarteten 21 000 Besucher hoffen nun auf den neuen Termin vom 25. bis 27. September.
Auch das zweitgrößte Mainzer Fest, die Sommerlichter vom 24. bis 26. Juli, wurde abgesagt.
Enttäuschung auch bei den Schauspielfreunden: Die Wormser Nibelungenfestspiele vom 17. Juli bis 2. August mit sonst oft 25 000 Besuchern fallen aus.
Vom 21. bis zum 25. August hätte auf der Bad Kreuznacher Pfingstwiese der Jahrmarkt, das größte Volksfest zwischen Nahe, Mosel, Rhein und Saar mit rund 450 000 Besuchern, stattgefunden.
Zum Mainzer Weinmarkt (27. bis 30. August) wären wohl 150 000 Besucher in den Volkspark gekommen. Offiziell ist das erste Wochenende abgesagt.
Bis zu 700 000 Menschen tummeln sich gewöhnlich auf dem Wormser Backfischfest (29. August bis 6. September). Über dieses Fest soll spät entschieden werden.
Schließlich wusste schon Friedrich Nietzsche: „In zwei Zuständen nämlich erreicht der Mensch das Wonnegefühl des Daseins, im Traum und im Rausch.“ Ob der alte Griesgram je ein Fest besucht hat, ist nicht überliefert. Jedenfalls schrieb sein philosophischer Nachfahre Josef Isensee in seiner Abhandlung „Die Philosophie des Festes“ von der „Notwendigkeit zu feiern“. Diese begründet der studierte Staatsrechtler wie folgt: „Im Wort ,feiern‘ steckt auch die Bedeutung des Nicht-Arbeitens.“ Wer feiere, lasse die Arbeitswelt, ihre Zwänge und Anstrengungen hinter sich. „Je drückender und armseliger der Alltag, desto schöner die Freiheitserfahrung.“ Was uns wieder zum RMF führt, dessen Motto in diesem Sommer „Freiheit“ lautet. Oder lauten soll. Ob die Veranstaltung in geplanter Form nämlich überhaupt stattfinden kann, entscheide sich erst nächste Woche, informiert die Festival-Website.
Ist das alles lediglich Jammern auf hohem Niveau? Sollten wir uns nicht lieber Gedanken um die machen, die derzeit um ihre Existenz, ihren Arbeitsplatz, die Betreuung ihrer Kinder bangen? Sicher, aber auch um mit all diesen Sorgen nicht allein zu sein, trifft sich der Mensch doch mit anderen.
„Ein Einzelner kann nicht allein und für sich feiern“, schreibt der lebenskluge Philosoph Isensee. „Das Fest ist ein Akt der Gemeinschaft. In ihm erfährt sich eine Menschengruppe als geistige Einheit.“ Dazu gehört die körperliche Präsenz. Das Umarmen, das Anfassen, das gegenseitige Küssen – in südlicheren Kulturkreisen sicher mehr als bei uns. Wer den ersten Mädelsabend via Videokonferenz-App hinter sich hat, stellt nach zwei Stunden ernüchtert fest: Es war nicht mal halb so schön wie „in echt“. Trotz Riesling (siehe oben) und Hintergrundmusik. Für geduldete Kurzzeit-Zaungäste männlichen Geschlechts ist damit übrigens das letzte Mysterium der langjährigen Partnerschaft entzaubert. Aber, hey: Wir waren dabei! Genauso wie bei der ersten – und womöglich einzigen – Livestream-Trauung unseres Lebens. Wobei: Beim Jawort war der Ton nicht so gut...
Gerade wer seit Wochen im Home-Office feststeckt und das Haus nur zum täglichen „Hofgang“ (Spazieren) verlässt, dem werden die Tage einerlei, in dem wächst der unbedingte Drang nach Abwechslung, Ablenkung, Zerstreuung, Ausbruch, Freiheit! Zumal die digital unterstützte Heimarbeit trotz aller neu gewonnenen Privilegien bei manchem Angestellten den Eindruck weckt, permanent im Dienst zu sein und gefühlt gar keinen Feierabend mehr genießen zu können.
Wie hatte Goethe in seinem Gedicht „Der Schatzgräber“ so trefflich gereimt? „Tages Arbeit, Abends Gäste // Saure Wochen, frohe Feste! // Sei dein künftig Zauberwort.“
Was wird aus Weihnachten und der Fastnacht?
Doch bis es soweit ist, muss der Infektionsschutz weiter an erster Stelle stehen. Auch wenn es unvorstellbar ist, dass die Rückkehr der Feste dauern soll, bis ein Impfstoff gefunden ist. Was wird dann aus Weihnachten? Und der Fastnacht? Eine Kollegin, die fern ihrer Familie im „Exil“ lebt und sich ausführlich in der närrischen Zeit engagiert, mag darüber kaum nachdenken. „An Weihnachten allein daheim, ohne meine Lieben? Unvorstellbar! Und dann womöglich nicht mal Rosenmontag, Kappensitzung, Zug?!“
Das Rennen um die gewagtesten Vorschläge zur „Rückkehr in die Normalität“ jedenfalls beschert momentan nicht nur Politikern, sondern auch manchem Partyprofi Häme: Die Berliner Popband Culcha Candela, die im Sommer einige Festivals spielen sollte, schimpfte unlängst auf Twitter über Auftrittsverbote und behauptete über die Ansteckung durch Covid-19: „Über die Straße gehen ist gefährlicher.“ Auf den „Shitstorm“ mussten die Musiker nicht lange warten. Bei allem Verständnis: zu recht.