Die Kinderlähmung war eine der am meisten gefürchteten Krankheiten, die weltweit fast ausgerottet wurde. Warum es dennoch immer wieder Fälle gibt – auch in New York und Israel.
BERLIN. Eigentlich galt die Kinderlähmung in Europa und in den USA als ausgerottet. Jetzt erkrankte ein junger Mann in New York an Poliomyelitis, in Israel war die Krankheit bereits im März bei einem kleinen Mädchen aufgetreten und in London wurde das Virus im Mai im Abwasser festgestellt: Kommt nach Corona und den Affenpocken jetzt die Kinderlähmung zurück?
Anfang des 20. Jahrhunderts war Polio eine der am meisten gefürchteten Krankheiten. Ausgelöst durch das Poliovirus kann es dabei zu bleibenden Lähmungen kommen. Ist die Atemmuskulatur von der Lähmung betroffen, führt dies sogar bis zum Tod. Bei den großen Epidemien Anfang der 1950er-Jahre in Deutschland gab es Tausende Polio-Fälle mit fast 10.000 Toten, betroffen waren vor allem Kinder. Bis heute ist die Krankheit nicht heilbar.
Polio-Wildtyp zirkuliert nur in zwei Ländern
Sie ist allerdings ein wenig in Vergessenheit geraten, denn die WHO hat Amerika und Europa schon vor Jahrzehnten für poliofrei erklärt. In Deutschland gab es 1990 den letzten Fall. Und dennoch ist die Kinderlähmung nie ganz weg gewesen. In den frühen 1980er-Jahren war die Krankheit noch in 125 Ländern verbreitet. Das änderte sich erst, nachdem 1988 die „Global Polio Eradication Initiative“ (GPEI) der WHO gegründet wurde, um die Ausbreitung des Virus mit einer weltweiten Impfkampagne zu bekämpfen – mit Erfolg: Heute zirkuliert das Polio-Wildvirus nur noch in Pakistan und Afghanistan.
Doch so lange die Übertragung des Virus in diesen Ländern nicht unterbrochen wird, kann es auch in alle anderen Länder wieder eingeschleppt werden – sei es durch Reisen, Migration oder Flucht. Um es gänzlich auszurotten, ist eine möglichst hohe weltweite Immunisierungsrate über Jahre zwingend notwendig. Und um das zu erreichen, muss auch in Deutschland weiterhin gegen Polio geimpft werden.
Virus kann sich unentdeckt ausbreiten
Ähnlich wie bei Corona ist es auch bei Polio möglich, dass Menschen symptomlos erkranken. Da sogar drei Viertel der Polio-Infektionen ohne Krankheitssymptome verlaufen, kann sich das Virus über viele Monate unentdeckt ausbreiten, wodurch es schwer zu überwachen ist. Das Virus gelangt über den Mund in den Körper und vermehrt sich im Darm. Über die Fäkalien wird es in die Umwelt abgegeben. So kann die Infektion unwissentlich auf Tausende übertragen werden, bevor der erste Fall von Polio-Lähmung auftritt.
Auf solch eine lokale Zirkulation des Virus deutet auch der Fall in New York hin. Dort war das Poliovirus im Mai, Juni und Juli in Abwasserproben nachgewiesen worden. „Für jeden identifizierten Fall von paralytischer Polio können Hunderte weitere unentdeckt bleiben“, sagte die zuständige staatliche Gesundheitskommissarin Mary T. Bassett. Der Nachweis des Poliovirus in Abwasserproben in New York City sei alarmierend, aber nicht überraschend.
Hohe Impfquote wichtig für die Ausrottung
Denn die Polio-Impfquote bei Kindern im Alter bis zu fünf Jahren liegt im betroffenen Bezirk Rockland County nur bei 60,3 Prozent, und damit weit unter der von der WHO definierten Zielmarke von 95 Prozent. Die Strategie zur Ausrottung von Polio basiert darauf, die Übertragung der Infektion zu verhindern, indem jedes Kind geimpft wird. Im Unterschied zu Corona kann bei Polio die Herdenimmunität nämlich erreicht werden – zumal Polio nur beim Menschen vorkommt und nicht in Tieren überleben kann.
Nachdem 1960 die Schluckimpfung mit einem abgeschwächten Lebendimpfstoff eingeführt wurde, sank die Zahl der jährlichen Poliofälle rapide. Doch der Impfstoff hatte einen Nachteil: Es kam vor, dass einige der zwar abgeschwächten, aber doch lebens- und vermehrungsfähigen Viren nach der Impfung einige Zeit lang mit dem Stuhl ausgeschieden wurden. Immer wieder erkrankten daher Menschen, die mit diesen Impfviren in Kontakt kamen, an einer sogenannten Impfpoliomyelitis.
Abnehmende Impfbereitschaft in Deutschland
Die abgeschwächten Impfviren aus der Schluckimpfung können lange Zeit unerkannt unter ungeimpften Menschen zirkulieren, sich dabei verändern (mutieren) und schließlich wieder zu Erkrankungen führen, die auch Lähmungen verursachen. So breiten sie sich vor allem in Regionen aus, in denen die Impfquoten niedrig sind. Im vergangenen Jahr verursachten diese mutierten Impfviren 659 Polio-Fälle, darunter auch zwei in der West-Ukraine, wo die Polio-Impfquote bei den unter einjährigen Kindern unter 50 Prozent liegt.
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Mittlerweile haben viele poliofreie Länder – darunter auch Deutschland seit 1998 – auf einen Totimpfstoff umgestellt. Dieser schützt laut Robert-Koch-Institut (RKI) zwar vor Krankheit und Symptomen, verhindert aber nicht die Infektion und dass das Virus an andere weitergegeben wird.
Zwar wird das Übertragungsrisiko für Deutschland als gering eingeschätzt, doch seit einigen Jahren nimmt die Bereitschaft zur Polio-Impfung ab, wie Zahlen des RKI zeigen. Demnach sind in Deutschland im Schnitt 92,9 Prozent der Kinder beim Schulstart gegen Polio immunisiert (Stand 2017). Und je mehr Menschen nicht geimpft sind, desto bessere Chancen hat das Virus.