Künstler fordert Balkonbotschaften für Pflegekräfte

aus Coronavirus-Pandemie

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An einem Fenster applaudieren Menschen nach einem Balkonkonzert. Foto: dpa
© dpa

Applaus von Balkonen ist wohlfeil, sagt der Wiesbadener Künstler Stefan Weiller in einem Gastbeitrag. Besser wäre es, gegen die Missstände in der Pflege zu protestieren.

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WIESBADEN. Meine Schwester ist Altenpflegerin. Sie macht das mit Herz, zumal Geld allein – angesichts der mäßigen Bezahlung – kein wirklicher Anreiz wäre. In ihrer Schicht pflegt sie rund zehn Menschen. Der Krankenstand in der Altenpflege ist hoch. Viele sind dem Druck nicht gewachsen, ohne zeitweise zu erkranken. Deshalb pflegt meine Schwester an der Grenze der Belastbarkeit und gleicht Personalmangel, so gut es geht, aus. Damit entlastet sie Angehörige und die Gesellschaft.

Dafür ist man dankbar. Aber manche Angehörigen krakeelen auf dem Flur herum und fordern mehr Fürsorge für die Oma, die sie selbst aber nur selten besuchen. Das Amt bezahlt. Also kann man was verlangen.

Kaum einer redet über Gewalt gegen Pflegende

Es gibt Gewalt in Heimen. Gewalt gegen Pflegerinnen und Pfleger. Alte Menschen sind nicht immer lieb wie in einer ZDF-Vorabendserie. Geredet wird in der Öffentlichkeit über Gewalt, die von Pflegenden ausgeht – und das ist richtig. Kaum einer redet über Gewalt, die Pflegende erleiden – und das ist bequem.

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Meine Schwester hat zum Klagen keine Zeit. Sie arbeitet oft wochenends und nachts. Streiken kann sie nicht. Meine Schwester holt Scheiße aus Erwachsenenwindeln – klingt drastisch, aber so verkürzt betrachtet mancher insgeheim den Beruf der Altenpflege. Jetzt plötzlich ist der Job systemrelevant; was für ein Bedeutungswandel.

Mancher Angehörige hat sich gerade noch rasch von alten Verwandten verabschiedet, weil er ahnte, dass die Pflegeheime bald für Besucher geschlossen werden müssen, um die Ausbreitung von Corona zu verhindern. Eben noch zehn arglose Tage beim Skilaufen, später – von Nachrichten aufgeschreckt – schnell der Oma die Hand zum vielleicht letzten Adieu gereicht, und bedauert, dass man sich nicht öfter gesehen hat, weil man von Corona nichts ahnte und das Leben kurz ist und überhaupt. Dann der Schwester auf dem Flur gesagt: „Dass Sie mir gut auf Oma aufpassen“, was weniger nach einer Bitte als mehr nach einer Drohung klang.

Selbstdarstellungspandemie als Trend gegen die Verzweiflung

Keine Frage: Die Trennungen sind für die allermeisten Angehörigen größte Tragödien, gerade für die fürsorglichen. Das neue Ausmaß der Einsamkeit in Heimen trifft alle unvermittelt, auch meine Schwester. Sie muss nun noch mehr leisten: an Zuwendung, Fürsorge. Das System schreit um Hilfe.

Als das System das letzte Mal gerettet wurde, ging es um Banken. Sicher war das nötig. Aber man rettete auch die Betrügereien, die überzogenen Gehälter und Spekulanten, die das System in seinen Lücken ausnutzten. Meine Schwester wird ausgenutzt – wie alle in der Pflege. Aber da schaut man nicht gerne hin; noch mehr scheut man hilfreiche Maßnahmen. Nun beginnt die Zeit des „Social Distancing“. Was anfangen mit der Zeit und den Gefühlen? Wer einen Balkon hat, kann frische Luft schnappen und auf die Leute sehen, die unten am Haus vorbei zur systemrelevanten Arbeit gehen. Da kann man ja mal Applaus spenden oder ein Lied singen. Ein neuer Trend gegen die Verzweiflung. Bloß nicht vergessen, Kameras aufzustellen. Selbstdarstellungspandemie. Facebook wird begeistert sein – und zur Steuervermeidung weiterhin Schlupflöcher suchen, so wie Amazon, Netflix und andere Corona-Profiteure. Aber geschenkt. Also: Bravo auch für Altenpfleger, die meistens Frauen sind. Alle sind berührt. Und morgen verabreden wir uns vielleicht sogar zu einem Lied für die Helden des Ausnahmezustands, die die Helden des Alltags sind, aber dafür klatschte man bisher selten, man versuchte zu sparen.

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Schilder malen in der Quarantänezeit

Jetzt zu applaudieren, scheint wohlfeil – und es ist: schön billig. Man darf nicht unfair sein: Die Aktionen sind gut gemeint. Aber ließen sich die Balkone vielleicht noch besser nutzen? Man könnte in der unfreiwillig gewonnenen Quarantänezeit wichtige Botschaften auf Schilder malen und dauerhaft auf Balkonen ausstellen: 1. Bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege! 2. Bessere Personalausstattung und Bezahlung! 3. Schluss mit Dokumentationswahnsinn! 4. Kürzere Wochenarbeitszeiten, erhöhter Urlaubsanspruch! 5. Früherer Renteneintritt! Das gäbe vielleicht Fernsehbilder! Ein paar wenige Transparente mit Forderungen gab es ja bereits zu sehen. Aber: Huch, die Umsetzung der Forderungen würde langfristig teuer und anstrengend werden. Vielleicht nicht so teuer, wie Banken zu retten, aber unangenehm viel Geld kostet es trotzdem.

Also hoffen wir, dass Corona vorbeigeht, wir wieder unser schönes Leben aufnehmen können und ausblenden, was jetzt so beschämend klar zu Tage tritt: Diejenigen, die das System am Laufen halten, sind oft die, die am schlechtesten dafür bezahlt werden und die miesesten Arbeitsbedingungen vorfinden. Supermarktkassierer, Leute von der Müllabfuhr und in der Pflege, Polizisten, Lieferanten ...

Dafür sollte man nicht laut klatschen und im reinen Lippenbekenntnis „Danke“ rufen, sondern eher leise und besonnen „Entschuldigung“ sagen und Verbesserung zusichern. Das Bewusstsein scheint zu wachsen. Vielleicht ist Corona – so wir es bald einhegen können – eine Chance für die Zukunft, in die wir, von der Erkenntnis gestärkt, was wirklich wichtig ist, gemeinsam gehen könnten.

Nach Musik und Klatschen ist mir jedenfalls gerade nicht. Nicht einmal auf Balkonen, zumal ich keinen habe. Meine Fenster zeigen in einen Innenhof. Wohl dem, der überhaupt eine Wohnung hat. Aber das ist ein anderes Thema.

Von Stefan Weiller