Sorge um Bildungssystem: Bald fehlen 100.000 Lehrkräfte

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In Deutschland mangelt es an Lehrkräften. Symbolfoto: dpa

Das deutsche Bildungssystem weist einige Baustellen auf. Eines der Probleme ist der enorme Lehrermangel. Eine Analyse unserer Bildungspolitik und ein Plädoyer für eine Zeitenwende.

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REGION. Zeitenwende bekommen wir anscheinend nur hin, wenn wir mit dem Rücken zur Wand stehen. Bei der Verteidigungspolitik scheint sich das gerade zu bewahrheiten. Putins Kriegserklärung an die freie Welt scheint endlich auch das Aufbäumen gegen den Klimawandel zu beflügeln, dessen Notwendigkeit wir über Jahrzehnte hinweg trefflich beschrieben haben. Gehandelt haben wir aber nicht.

In der Bildungspolitik hat Deutschland den Status der Analyse und bestenfalls der folgenlosen Ideenschmiede allerdings noch nicht überschritten. Obwohl auch hier die Zeitenwende mehr als nötig ist. Allein der Pisaschock hat in den vergangenen Jahrzehnten für etwas Schub in der Bildungspolitik gesorgt. Nach leichten Verbesserungen sind die Ergebnisse allerdings schon wieder passé. Stattdessen türmen sich die Probleme: Kaum ein Industrieland ist so schlecht darin, Kindern aus migrantischen und abgehängten Familien Aufstiegschancen zu ermöglichen. Die ewigen Sonntagsreden zur Bildungsgerechtigkeit und die tatsächliche Entwicklung verlaufen verlässlich gegenläufig. Mit der Digitalisierung der Schulen sind die – häufig verschlafenen – Kommunen ebenso allein gelassen worden wie mit den miserablen baulichen Zuständen.

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In dieser Ausgangsposition sind die Schulen drei Stresstests unterworfen worden, unter denen die Grundschulen und die Brennpunktschulen stets am stärksten gelitten haben: die Flüchtlingskrise 2015, die Corona-Krise der vergangenen zwei Jahre und aktuell der Zuzug von 140.000 ukrainischen Kindern und Jugendlichen.

Stresstest Coronakrise, Stresstest Flüchtlingskinder

Und ausgerechnet jetzt kommt der große Generationenumbruch in den Lehrerzimmern. Die Babyboomer unter den Pädagogen werden in den kommenden Jahren in Scharen die Schulen verlassen. Die demografische Gegenrechnung, dass auch die Schülerzahlen entsprechend zurückgehen würden, aber geht nicht auf.

Selbst der von der Kultusministerkonferenz beauftragte nationale Bildungsbericht, der gerade erschienen ist, beschreibt den unaufhörlich wachsenden Lehrermangel als das größte Problem. In der vorschulischen Bildung, den Kitas also, fehlen bis 2025 ganze 72.500 Fachkräfte. An den Schulen und Berufsschulen wird die kurzfristige Lücke mit insgesamt 30.000 Lehrerstellen beschrieben.

Der Bildungsexperte Klaus Klemm schaut dagegen zehn Jahre weiter und geht in der von ihm erstellten Prognose für 2035 sogar von 127.000 fehlenden Lehrerinnen und Lehrern aus. Dabei rechnet er im Gegensatz zu den Kultusministern den Mehrbedarf durch wachsende Ganztagsbetreuung und eine bessere personelle Ausstattung von Brennpunktschulen ein – was nicht ganz dumm ist.

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Hat die schwarze Null Schuld an der deutschen Bildungsmisere?

Die Ursachen für die schulische Bildungsmisere in Deutschland sind vielfältig. Sie liegt auch im Fetisch der schwarzen Null. Dieser Fetisch hat die Bundes- und Landesregierungen in den vergangenen Jahrzehnten dazu verleitet, die Infrastruktur in Deutschland auch an anderen Stellen zu vernachlässigen. Die heruntergewirtschaftete Bahn, die maroden Autobahnbrücken, der Rückstand bei der Digitalisierung und der Personalmangel in der Bildung wie im Pflegebereich sind allesamt Ausdruck einer verantwortungslosen Finanzpolitik, die sich aus Angst vor den Wählern zugleich weigert, die stetig schrumpfende Investitionsquote ins Verhältnis zu den wachsenden laufenden Ausgaben zu setzen.

Alle Artikel zu unserem Themenmonat „Bildung“: Hier in unserem Dossier

Im Bildungsbereich kommt die Weigerung hinzu, überhaupt Politik machen zu wollen. Seit die Ministerpräsidenten verstanden haben, dass man mit Schulreformen keine Wahlen gewinnen, aber sehr wohl verlieren kann, verhalten sich die Bildungsminister nur noch wie Schulräte: als Sachwalter und nicht als Gestalter. Niemand von ihnen hat sich dem demografischen Selbstbetrug entgegengestellt, um mutig für mehr Lehrer zu kämpfen. Hätten sie auch nur versucht, die personelle Dividende vermeintlich sinkender Schülerzahlen in die dringende Verbesserung der Bildungsgerechtigkeit zu stecken, stünden wir in den kommenden Jahren nicht ganz so blank da. Keine Partei, die sich getraut hätte, die Ganztagsschule als Regelschule einzufordern, anstatt dieses Angebot nur als Rekrutierungsprogramm für berufstätige Mütter zu betreiben.

Eine flächendeckende Ganztagsschule könnte nicht nur die Wissensaufnahme in der Schule mit mehr Zeit für kreatives Gestalten und sozialem Lernen verbinden. Sie würde auch ganz praktisch viele Jungen für mehrere Stunden täglich vom Computerspiel abhalten und zahlreiche Mädchen aus ihrer milieu- und religionsbedingten Rollenbegrenzung befreien. Das Einzige, was sich verbessert hat, ist das Ansehen der Lehrer. Zumindest in dem Sinne, dass kaum noch jemand sagt, er wolle gerne mit ihnen tauschen.

Auch die hohe Teilzeitquote der Lehrer ist ein Problem

Und die Konsequenzen aus all diesen Leerstellen? Endlich mehr Geld in die Hand nehmen und pragmatische Verbesserungen einführen. Mehr Lehrer kann man kurzfristig nicht backen – mittelfristig schon. Bis dahin müssen offensiv Seiteneinsteiger gesucht werden. Wer Erfahrung aus anderen Lebensbereichen mitbringt, muss keine Notlösung, kann auch eine Bereicherung für die Schulen sein. Ausscheidenden Lehrern müssten wir längst Offerten machen, länger zu unterrichten. Am umstrittensten ist derzeit, wie die extrem hohe Teilzeitquote unter Lehrern gesenkt werden kann.

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Selbst eine Erhöhung der Klassengrößen ist zumindest in den nicht öffentlich geführten Debatten kein Tabu mehr. Zielführender scheint dagegen eine Entschlackung der Lehrpläne zu sein. In den Schulformen, in denen möglichst alle Schüler wenigstens ordentlich Lesen, Schreiben und Rechnen können sollten, ist diese Entschlackung unvermeidlich. Und mehr Eigenverantwortung für die Schulleitungen sowieso.