Aufklärungsexpertin: Früh das Gespräch suchen

Bei der Aufklärung sind die Mütter gefragt, sagt Expertin Gisela Gille. Foto: uiliaaa - stock.adobe
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Seit 30 Jahren klärt Ärztin Gisela Gille Mädchen auf. Im Interview spricht sie über den richtigen Zeitpunkt dafür – und darüber, warum so viele Eltern ihn verpassen.

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. Kinder wissen immer früher mehr über Sex. Richtig aufgeklärt sind sie deshalb aber nicht. Die Ärztin und Aufklärungsexpertin Gisela Gille verrät im Interview, wie man mit seinen Kindern über die Veränderungen des Körpers sprechen sollte – und warum besonders Mütter hier eine besondere Rolle spielen.

Frau Gille, wie haben Sie Ihre beiden Töchter aufgeklärt?

Das ist zwar schon eine ganze Weile her, ich weiß aber noch, dass es sehr schwierig war. Vor allem, weil ich den richtigen Zeitpunkt verpasst hatte. Man sollte das Gespräch unbedingt in der frühen Pubertät suchen, zwischen elf und 13 Jahren.

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Warum?

Mädchen beschäftigen sich in dieser Zeit sehr viel mit sich selbst. Ihr Körper verändert sich stark, sie müssen zu einem neuen Selbstbewusstsein finden. Das sind die kostbaren Jahre für Mütter-Töchter-Gespräche. Die allermeisten Mädchen sind jetzt sehr offen und dankbar für die Kommunikation. Nicht alle werden offensiv Fragen stellen, aber dann ist es an den Müttern, in entsprechenden Situationen das Gespräch zu suchen. Gelegenheiten werden sich immer bieten, etwa wenn ein Mädchen sich plötzlich zu dick findet oder die Freundin ihre Tage bekommen hat.

Und wenn man diesen Zeitpunkt verpasst?

Ab etwa 14 Jahren beginnt langsam die Abnabelung von den Eltern. Dann werden Aufklärungsgespräche schwieriger und manche Töchter haben nur noch Jungs im Kopf. Was aber nicht bedeutet, dass man die Kommunikation dann nicht mehr suchen sollte. Aber die frühe Pubertät ist eben ideal, um den Mädchen bei allen Fragen rund um die körperlichen Veränderungen zur Seite zu stehen.

Aber sind das wirklich Fragen, die pubertierende Töchter gern mit ihren Müttern besprechen wollen?

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Unbedingt. Alle Umfragen zeigen, dass in diesem Alter die Mutter als präferierte Informationsperson unangefochten auf Platz eins steht – vor der besten Freundin, der Ärztin oder den sozialen Medien. Die Väter dagegen stehen an letzter Stelle. Selbst bei ihren Söhnen sind sie übrigens nicht erste Wahl. Diese wenden sich erst an ihre Lehrer oder an den besten Freund, bevor sie den Vater oder die Mutter fragen.

Woran liegt das?

Ich denke, um Wissen an meine Kinder weitergeben zu können, muss ich zunächst selbst sehr gut informiert sein. Ich könnte mir vorstellen, dass Männer Fragen rund um Pubertät und Sexualität noch weniger reflektieren, als viele Frauen das tun. Aber auch für viele Mütter sind Themen wie die Menstruation oft noch sehr tabu- und schambehaftet. Das erschwert solche Gespräche natürlich. Und wenn die einzige Reaktion einer Mutter auf die erste Regel ihrer Tochter ist: „Jetzt hast du den Mist auch“ – wie wollen sie ihr dann noch ein positives weibliches Körpergefühl vermitteln?

Wie reagiert man als Mutter stattdessen auf die erste Menstruation der Tochter?

Blut zu verlieren, ist für den Menschen immer etwas sehr Respekteinflößendes, aber eben auch etwas sehr Natürliches. Mit der ersten Menstruation neigt sich die körperliche Pubertät dem Ende zu. Das ist vielen Eltern gar nicht bewusst, sie denken: Jetzt geht es erst richtig los. Die Mädchen haben nun einen wichtigen Entwicklungsschritt geschafft. Das dürfen Mutter und Tochter ruhig ein wenig feiern, vielleicht mit einem Besuch in der Eisdiele oder mit einem schönen neuen Pulli.

Sie sind als Ärztin seit 30 Jahren in Schulklassen unterwegs. Wie empfinden Sie den schulischen Sexualkundeunterricht?

Solange Mädchen und Jungen gemeinsam aufgeklärt werden, muss das natürlich sehr sachlich ablaufen. Das ist Aufgabe der Lehrer. Ich aber komme nur zu den Mädchen. Die löchern mich auch nicht gleich mit Fragen, weil sie meist noch gar nicht wissen, was sie überhaupt für Fragen haben. Aber ich erzähle und erkläre sehr viel und am Ende wollen sie mich meist nicht mehr gehen lassen und tragen sogar noch meine Tasche zum Auto – nur um noch zwei, drei Fragen loszuwerden.

Fragen die Mädchen heute andere Dinge als noch vor 30 Jahren?

Nein, die Fragen rund um die Körperveränderungen, Weißfluss, Menstruation, Tampon-Nutzung oder Frauenarztbesuch haben sich eigentlich überhaupt nicht verändert. Es ist auch nicht so, dass die Mädchen durch das Internet mehr Wissen mitbringen. Im Gegenteil habe ich oft das Gefühl, dass sie das, was sie dort lesen oder sehen, oft eher verunsichert, als dass es ihnen weiterhilft – weil sie mit ekligen Bildern konfrontiert werden oder weil das Erklärte nur bruchstückhaft ist. Bei meinen Klassenbesuchen geht es mir nicht darum, die Mädchen irgendwie aufzuklären, sondern es geht mir um die richtige Aufklärung.

Was meinen Sie damit?

Die Anleitung dazu, wie man einem Jungen richtig einen bläst, findet jedes Mädchen im Internet. Mir aber liegt vielmehr am Herzen, dass die Mädchen zunächst einmal begreifen, wie toll sie sind. Denn die körperlichen Veränderungen in der Pubertät schüchtern erst mal jedes noch so selbstbewusste Mädchen ein. Ich möchte ihnen dabei helfen, ein positives weibliches Körpergefühl zu bekommen.

In einem Alter, in dem kaum ein Mädchen seinen Körper mag, ist das eine echte Herausforderung!

Ja, aber die entscheidende Frage ist doch, warum das so ist. Ich denke, das liegt vor allem auch daran, weil sich die Mädchen viele der Veränderungen nicht erklären können. Warum wird die Hüfte breiter? Warum lagert man plötzlich mehr Fettgewebe ein? Hier brauchen sie die richtigen Antworten und nicht die falschen Bilder aus den Medien.

Sie meinen die von dünnen Supermodels?

Ja, dort wird suggeriert, dass der Körper einer Barbie oder einer Heidi Klum dem normalen weiblichen Körper entspricht. Und schon fangen die Mädchen ihre erste Diät an. Mit elf Jahren! Oder sie lassen sich ihre Schamlippen beim Schönheitschirurgen verändern, weil das Schönheitsideal inzwischen vermittelt, diese müssten aussehen wie vor der Pubertät. So sehen kleine Mädchen aus, aber Frauen eben nicht! Ich möchte den Mädchen vermitteln, dass sie nicht nur okay sind, so, wie sie von Natur aus sind, sondern dass sie sogar schön sind. Und das sollte auf jeden Fall auch jede Mutter ihrer Tochter mit auf den Weg geben.

Das Interview führte Sandra Markert.