Gastbeitrag von Michel Friedman: Raus aus der Komfortzone
Syrien-Konflikt, Rechtsextremismus, Debattenkultur: Politik und Gesellschaft, aber auch jeder Einzelne, stehen vor wegweisenden Entscheidungen.
Von Michel Friedman
Michel Friedman.
(Foto: Nicci Kuhn)
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Eine Entscheidung zu treffen, gehört zu den großen Herausforderungen des Menschseins. Es bedeutet, aus mehreren Möglichkeiten die auszuwählen, zu der man am ehesten stehen kann. Eine Entscheidung ist aber auch immer daran gekoppelt, Verantwortung zu tragen, zu übernehmen. Und: Auch das Nicht-Entscheiden ist eine Entscheidung, die Konsequenzen nach sich zieht.
Die Bundesrepublik Deutschland steht erneut vor wichtigen politischen Fragen, die nach Antworten rufen. Es geht wieder (wann war das nicht so?) um Krieg und Frieden. Der Konflikt in Syrien, der Umgang mit dem völkerrechtswidrigen Angriff der Türkei, aber auch die genauso völkerrechtswidrige Besetzung der Krim durch Russland zwingen uns, uns aus der theoretischen Erwägung und der wissenschaftlichen Analyse herauszubewegen, Haltungen zu entwickeln, die deswegen schmerzhaft sein könnten, weil wir selbst sie dann verwirklichen müssten, statt wie bisher die USA. Wie stark ist unsere Verteidigungsfähigkeit? Wann müssen wir auch über eigene militärische Optionen nachdenken und uns militärisch involvieren? Was bedeutet das für die Identität des Einzelnen und die politische Identität der Bundesrepublik Deutschland? Können unsere ausschließlich defensiven Konzepte die äußere Sicherheit gewährleisten, wenn sich gleichzeitig militärisch offensivere Konzepte in unmittelbarer Nähe unseres Landes durchsetzen?
Auch muss festgestellt werden, dass wir uns bei einem anderen substanziellen Thema Deutschlands viel zu lange zurückgehalten, wenn nicht gar gedrückt haben: Inwieweit stehen nicht mehr Millionen Menschen mit beiden Beinen auf dem Boden der Demokratie, sondern nur noch mit eineinhalb Beinen? Reicht es, der sich ausbreitenden demokratiefeindlichen Bewegung, deren geistige Brandstifter mittlerweile im Bundestag und in allen Länderparlamenten sitzen, mit den üblichen rhetorischen Antworten zu begegnen oder müssen wir eine Entscheidung treffen und anerkennen, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland ein strukturelles Demokratieproblem erleben? Das würde bedeuten, Wähler der Partei, in der der Hass zu Hause ist, nicht mehr als „Protestwähler“ zu bezeichnen – eine Bezeichnung, die sowohl uns als auch die Wähler entlastet.
UNSER GASTAUTOR
Michel Friedman ist Jurist, Politiker, Publizist und Fernsehmoderator.
Unsere Demokratie basiert auf Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Die AfD formuliert in großen Teilen, dass die Würde einiger Menschen doch antastbar ist. Damit verlässt sie den Boden unseres Grundgesetzes und ihre Wähler mit.
Der Anschlag in Halle, die Ermordung des Regierungspräsidenten Lübcke, die seitenlangen Aufzählungen von Straftaten müssen die Frage aufwerfen: Was stimmt fundamental nicht mit der deutschen Gesellschaft? Die überwiegende Mehrheit unterstützt Hass und Gewalt nicht, aber auch sie muss sich langsam entscheiden: Fühlt sie sich bedroht oder ist dies bloß ein Problem der Minderheiten? Steht die Mehrheit zum Grundgesetz, zur Demokratie, zur Freiheit? Falls ja, muss sie sich entscheiden, sich für dieses Ziel zu engagieren und damit das Fundament der Menschenwürde und Menschenrechte in Deutschland zu stabilisieren. Dies sind einerseits individuelle Entscheidungen, die im Alltag gelebt werden müssen. Gleichzeitig braucht es diese Haltung auch im Politischen. Und auch da werden die Vielen eine Entscheidung treffen müssen: sich aus ihrer Bequemlichkeit zu lösen, aus ihrer Komfortzone herauszutreten und im öffentlichen Raum diese Debatte zu führen. Letztendlich geht es um die Entscheidung: Wie will ich leben, in Vielfalt oder in Einfalt? In einer Gesellschaft, in der Konfrontation herrscht oder Kooperation? In der Anerkennung und Respekt gelten davor, dass das Menschenleben jedes Einzelnen unverhandelbar ist, oder dies – wie die Demokratiefeinde es anbieten – doch verhandelbar ist?
Verdrängen geht nicht mehr. Es ist Zeit zum Entscheiden und zum Handeln, allerhöchste Zeit.