Aus der Individualisierung des Menschen darf keine Kultur des Egoismus erwachsen – fordert unser Gastautor Michel Friedman.
. Kinder wollen immer alles und sofort. Sie strahlen, wenn Sie es bekommen. Sie weinen und schreien, wenn nicht. Verzicht ist nicht in ihrem Programm eingetragen. Auf etwas zu verzichten ist in der Vorstellungswelt der Kinder undenkbar. Erwachsenwerden bedeutet unter anderem den oft schmerzhaften Weg gehen zu müssen, dass das Leben kein Wunschkonzert ist und dass verzichten zur Grund-DNA der Existenz gehört.
Nicht erst seit der Corona-Pandemie wird sichtbar, wie schwer es der überwiegenden Mehrheit in unserer Gesellschaft fällt, auf etwas zu verzichten. In den letzten Jahrzehnten ist für die meisten Menschen (all die, die einkommensschwach und in sozialen Engpässen leben, sind nicht gemeint) die Erfüllung ihrer Wünsche zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Die einen mehr, die anderen weniger (je nach Einkünften) wurde früher oder später jeder (materielle) Wunsch erfüllt. Das Lebensprinzip des Mahatma Gandhi „das Geheimnis eines glücklichen Lebens liegt in der Entsagung“, ist das Gegenteil dessen, was in der Konsum-Zivilisation gelebt wird. Der griechische Historiker Plutarch sagt „Wer wenig bedarf, der kommt nicht in die Lage, auf vieles verzichten zu müssen“.
Keine Übung im Verzichten
In der Corona-Zeit wurde vielen Menschen abverlangt auf vieles verzichten zu müssen. Nicht nur im materiellen Sinne, sondern vor allen Dingen in ihren Freiheitsrechten. Vielen wurde zum ersten Mal bewusst, wie wertvoll diese Freiheitsrechte sind und wie schmerzhaft der Verlust dieser Rechte ist. Vielen wurde aber auch bewusst, dass sie keine Übung darin hatten, auf etwas verzichten zu müssen, deren Wert und Bedeutung ihnen bis dahin gar nicht bewusst waren.
Eines der Chancen der Pandemie für die gesellschaftspolitische Debatte könnte es sein, dass es den Menschen bewusster werden wird, dass weder materielle noch immaterielle Werte für immer garantiert sein können. Diejenigen allerdings, die mit einer groben Rücksichtslosigkeit und Respektlosigkeit ihre Freiheitsrechte zurückerobern, indem sie in öffentlichen Räumen oder in Fleischfabriken die Hygieneregeln mit Füssen treten, haben immer noch nicht verstanden, dass sie damit das Erreichte wieder zerstören können und die Verzichtsspirale wieder ankurbeln. So ein Verhalten ist unsozial.
Mit anderen Grundrechten abwägen
Freiheiten wert zu schätzen bedeutet, sie in der Abwägung mit anderen Grundrechten und dem Solidaritätsprinzip zu spiegeln. Das bedeutet immer auch Verzicht. Rücksicht nehmen bedeutet immer auch Verzicht. So sehr es eine politisch fortschrittliche Entwicklung ist, dass wir im 21. Jahrhundert die Individualisierung des Menschen vorantreiben, seine Freiheitsräume erweitern, innere wie äußere Grenzen öffnen, so sehr muss darauf geachtet werden, dass aus diesen Individualisierungsprozessen nicht eine Kultur des Egoismus wächst. Egoisten sind Erwachsene, die auf dem Entwicklungsstand von Kleinkindern hängen geblieben sind.
Niedrige Sozialkompetenz, immer und jederzeit alles haben wollen, keine Rücksichtnahme auf andere und eine Ablehnung des Verantwortungsprinzips. Menschen die nicht gelernt haben, dass eine Gesellschaft sich darauf verlassen können muss, und zwar nicht nur in Krisenzeiten, dass das Prinzip Verzicht im persönlichen wie auch gesellschaftspolitischen Raum, eine geübte Realität ist. Es wird höchste Zeit, dass wir das wieder üben.
Von Michel Friedman