Der Gesundheitsminister befürchtet mehr Tote bei Lockerungen, erntet aber für seine Aussagen Kritik. In den Heimen gibt es derweil viel weniger Opfer als im Vorjahr.
WIESBADEN/MAINZ. Bei der Ministerpräsidentenkonferenz am nächsten Mittwoch geht es auch um die Frage, ob in Deutschland weitere Lockerungen der Coronamaßnahmen möglich sind. Viele andere europäische Länder tun dies, trotz teils niedrigerer Impfquote als hierzulande. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) lehnt dies ab – auch deshalb, weil dann viel mehr Todesopfer zu befürchten seien. Er spricht von „400, 500 Toten am Tag“. Wie ist das einzuordnen, wie ist die Lage derzeit? Und wie ist die Situation in den Altenheimen, wo es im vergangenen Winter besonders viele Corona-Todesfälle gab?
Zahlen liegen deutlich unter denen im vergangenen Winter
In den beiden vergangenen Tagen ist die gemeldete Zahl der an und mit einer Coronavirusinfektion Gestorben gestiegen. Am Montag und Dienstag waren es laut Robert Koch-Institut (RKI) 49 beziehungsweise 177, am Mittwoch und Donnerstag dann 272 beziehungsweise 238. Der Sieben-Tage-Schnitt – also das tägliche Mittel – liegt damit derzeit bei rund 150 bis 160; Mitte Dezember, auf dem Höhepunkt der vierten Welle, waren es im Schnitt noch rund 350 bis 400. Obwohl damals die Infektionszahlen deutlich niedriger waren. Noch größer ist der Unterschied im Vorjahresvergleich: Mitte Januar 2021, auf dem Höhepunkt der zweiten Welle, waren es im Schnitt fast 900 Tote täglich. Damals lag die Sieben-Tage-Inzidenz zwischen 150 und 200, heute bei fast 1500 – die Dunkelziffer dürfte noch weitaus höher liegen.
Zwei Effekte zeigen sich hierbei: Zum einen die Omikron-Variante, die seltener zu schweren Verläufen führt. Zum anderen der Schutz durch die Impfungen. Klar wird dies auch in den Alten- und Pflegeheimen, wo es im vergangenen Winter besonders viele Coronatote gab. Der Anteil schwankt in den einzelnen Bundesländern; in Hessen waren rund 60 Prozent der Coronatoten in dieser Zeit Heimbewohner, in Rheinland-Pfalz waren es rund ein Drittel. In Bayern etwa lag der Anteil bei knapp der Hälfte.
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Heute ist die Lage deutlich besser. In Hessen gab es nach Auskunft des für die Statistik zuständigen Regierungspräsidiums Gießen zwischen November und Januar in den Heimen insgesamt 226 Corona-Tote, die bislang gemeldet wurden; ein Jahr davor waren es in diesen Monaten noch insgesamt 2593 Tote. Also mehr als zehnmal so viele. Ähnlich das Bild in Rheinland-Pfalz: In den vergangenen drei Monaten starben laut Sozialministerium in den Heimen insgesamt 62 Menschen an und mit Corona, wobei noch Nachmeldungen hinzukommen können; im Vorjahreszeitraum waren es 920. Allerdings ist von Dezember auf Januar die Zahl der infizierten Bewohner deutlich gestiegen, In Hessen etwa von 478 auf 1750. Grund dürfte die deutlich ansteckendere Omikronvariante sein. Unklar ist, wie stark sich dies auf die Zahl der besonders schweren Verläufe bis hin zum Tod niederschlagen wird.
Kern: Gesundheitssystem vor Überlastung schützen
Die möglichen Gefahren durch Omikron halten auch Gesundheitsminister Lauterbach nach eigenem Bekunden von Lockerungen ab. Im ZDF-„heute Journal“ am Dienstagabend sagte er auf die Frage, ob Deutschland ähnlich stark wie Israel – das eine niedrigere Impfquote hat – lockern könne, dass hierzulande dann 400, 500 Tote täglich drohten. Schon die jetzigen 100 bis 150 pro Tag seien zuviel. An dem Fokus auf den Todeszahlen als Begründung für die Coronamaßnahmen gibt es jedoch Kritik aus Oppositionsparteien: „Im Kern kann es nur darum gehen, das Gesundheitssystem vor einer Überlastung zu schützen und unserer aller Versorgung im Krankheitsfall sicherzustellen“, sagte der rechtspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Günter Krings (CDU) in der „Welt“. Er sei „sehr darüber verwundert“, dass Lauterbach nun die „Begründung für die Schutzmaßnahmen austauscht“. Ähnlich äußerte sich die gesundheitspolitische Sprecherin der Linksfraktion, Kathrin Vogler: „Ausschließlich die Zahl der Todesfälle oder die Hospitalisierungsrate zum Kriterium für Maßnahmen der Pandemiebekämpfung zu machen, greift zu kurz (...).“ Ethikratsmitglied und Rechtswissenschaftler Stephan Rixen sagte dem ZDF, dass „Bedrohungsszenarien ins Blaue hinein Grundrechtseinschränkungen nicht rechtfertigen“.
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Nach ZDF-Angaben wollten weder das Gesundheitsministerium noch das RKI auf Nachfrage erklären, wie Lauterbach zur Zahl von möglichen 400, 500 Toten kommt. Am Donnerstagmittag äußerte er selbst sich beim Kurznachrichtendienst Twitter dazu. „Wie stark heute protestiert wird, wenn man das nicht gerne gehörte, aber offensichtliche, sagt“, schrieb er; „würde unsere Inzidenz deutlich steigen hätten wir deutlich mehr Tote. Gibt man Werte in RKI Modell ein zeigt sich das sofort. Omikron Wunschdenken hilft nicht.“