Der Linken-Landesvorstand steht nach Vorwürfen sexueller Übergriffe von Politikern hinter seiner Bundeschefin Wissler und kündigt Aufklärung an. Doch in der Partei brodelt es.
FRANKFURT. Die eine Chefin geht, die andere bleibt. Und soll vorerst allein die Linke führen – eine Partei, die augenscheinlich gerade in ihre Einzelteile zerbricht. Der erbitterte Streit um den richtigen Kurs und auch um Personen schwelt seit Monaten, die jüngsten Wahlergebnisse sind desaströs, nun erschüttert ein Skandal um mutmaßliche sexuelle Übergriffe durch Linke-Politiker die Partei endgültig in ihren Grundfesten. Ausgangspunkt ist Hessen, die Heimat von Janine Wissler – nach dem Rückzug von Susanne Hennig-Wellsow ist sie nun die alleinige Parteichefin. Doch sie ist weiterhin massiv unter Druck, auch wenn Bundes- und Landesvorstand sich hinter sie stellen.
„Sehen kein Verschulden bei Janine Wissler“
„Wir werden Janine Wissler sehr unterstützen“, sagt die hessische Co-Landeschefin Petra Heimer in Frankfurt. „Wir sehen kein Verschulden von ihrer Seite“, ergänzt der stellvertretende Landesvorsitzende Michael Ehrhardt. Zugleich entschuldigen sie sich ebenso wie Co-Landeschef Jan Schalauske ausdrücklich bei den mutmaßlichen Opfern der Übergriffe.
Aufgrund der bislang dafür nicht vorhandenen Strukturen seien Fehler bei der Aufarbeitung der Vorfälle gemacht worden, nun soll eine „Kultur des Hinschauens“ entwickelt werden. Mit einem neuen Verhaltenskodex, Schulungen – möglicherweise verpflichtend – zum Thema „toxische Männlichkeit und Rollenverhalten“, zudem soll sich ein neues Expertengremium der Bundespartei der Vorgänge in Hessen annehmen. Sollten sich die aktuellen Vorwürfe bestätigen, müssten „selbstverständlich auch persönliche Konsequenzen folgen“, sagt Ehrhardt.
Zahl mutmaßlicher Opfer und Täter in Hessen ist unklar
Klarer Rückhalt für Wissler, ein klares Bekenntnis zur Aufklärung, der Ruf nach personellen Konsequenzen – die Suche nach einem Ausweg aus der Krise dürfte für die Linke eine Gratwanderung werden. Denn auch die Rolle der ehemaligen Landtagsfraktionschefin Wissler in dem Skandal steht auf dem Prüfstand. Ihr früherer Partner gehört zu den Männern, denen sexuelle Übergriffe vorgeworfen werden. Der damals Anfang-Vierzigjährige, ein Fraktionsreferent und früherer Bundestagskandidat, begann parallel eine sexuelle Beziehung mit einer anfangs 17-Jährigen, soll von ihr Fotos in sexuellen Posen gemacht haben. Die junge Frau sagt, sie habe sich im Lauf der Beziehung hilfesuchend an Wissler gewandt; Wissler wiederum sagt, sie habe erst Ende November 2021 beziehungsweise zum Jahreswechsel von möglichen sexuellen Übergriffen erfahren und dann sofort reagiert. Auch Landeschefin Heimer sagt, der Vorstand habe erst im November davon erfahren. Wissler wiederum habe sicherlich kein Interesse daran gehabt, „jemanden zu schützen, der so mit ihr umgegangen ist“.
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Die Vorwürfe in unterschiedlichen Fällen wurden von mehreren jungen Frauen und Männern zunächst in sozialen Medien geäußert, durch einen „Spiegel“-Bericht nun bundesweit publik. Wie viele mutmaßliche Opfer und Beschuldigte es in Hessen insgesamt geben könnte, ist laut Landesvorstand nicht bekannt. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft Wiesbaden wurden verschiedene Ermittlungsverfahren gegen Linke-Vertreter geführt, aber alle mangels Tatverdacht eingestellt. In dieser Woche hat die Fraktion einen Referenten und einen Wahlkreismitarbeiter vorerst freigestellt. Inzwischen wehren sich aber auch drei Wiesbadener Linke-Funktionäre ihrerseits mit Strafanzeigen wegen übler Nachrede.
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Denn auch darüber gibt es Streit bei den Linken, bis hinauf zum Landesvorstand: Ob der Umgang mit den Vorwürfen nicht auch einer Vorverurteilung gleichkomme. So hat die stellvertretende Landesvorsitzende Marjana Schott (Kassel) ihren Rücktritt und Austritt aus der Partei erklärt. – wegen des Umgangs mit den Beschuldigten. In den Geschichten der mutmaßlichen Opfer stolpere sie ständig über „Lügen“; Gesprächsangebote des Landesvorstands seien von diesen abgelehnt worden, „zum Teil begleitet von üblen Beschimpfungen“. Die Mitglieder der Linksjugend „Solid“ befeuerten aus ihrer Sicht die Debatte im Netz und der Presse „auf eine Weise, die keinem Opfer hilft“.
Ausgetretene Ex-Landeschefin spricht von „Rufmord“
So dringen mehrere „Solid“-Mitglieder in den sozialen Medien seit Tagen massiv auf Aufklärung; Bundessprecherin Sarah Dubiel (Wetzlar) sagte zur Kritik Schotts auf Anfrage dieser Zeitung: „Der Jugendverband nimmt Betroffene ernst, hat interne Aufklärung versucht und Forderungen an den Parteivorstand gestellt, die gestern in Teilen erfüllt wurden, wie zum Beispiel die externe Gruppe zur Aufklärung. Der Druck der Öffentlichkeit hat in dem Fall schon geholfen, sodass die Aussage, es helfe keinem Opfer, nicht stimmig ist.“ Schott wiederum hat nun nach eigenen Angaben Anzeige gegen Dubiel wegen Verleumdung erstattet – wenn Dubiel von „Täterschutz“ im hessischen Landesverband spreche, sei dies „Rufmord“.
Vorwürfe sexueller Übergriffe, Streit um den Umgang mit Opfern und mutmaßlichen Tätern, unklare Führungsfragen im Bund: Den Linken stehen sehr turbulente Wochen bevor, vorerst bis zum Parteitag im Juni. Janine Wissler hat sich nach dem Rücktritt ihrer Co-Chefin noch nicht öffentlich geäußert. Sie habe an dem digitalen Vorstandstreffen teilgenommen, stehe aber derzeit nicht für ein Statement zur Verfügung, sagte ein Linke-Sprecher auf Anfrage. Bundestagsfraktionschef Dietmar Bartsch wiederum sprach in der ARD von „einer der schwersten Krisen“ seiner Partei.