So will Wissing die Bahn wieder flott und zuverlässig machen

Ein rotes Schild sperrt ein Gleis der Riedbahn bei Lampertheim in Südhessen. Im Sommer 2024 startet die Generalsanierung der Strecke zwischen Frankfurt und Mannheim.

Klotzen statt kleckern: Der Verkehrsminister verpasst der Bahn eine neue Sanierungsstrategie für mehr Pünktlichkeit. Das Pilotprojekt startet 2024 auf der Riedbahn in Südhessen.

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Region. An diesem Nachmittag ist der RE 70 von Frankfurt nach Mannheim nicht pünktlich unterwegs – in Lampertheim hat er schon gut zehn Minuten Verspätung eingesammelt. So bekommt der prominente Fahrgast den typischen Pendler-Alltag hautnah mit. Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) ist in Frankfurt eingestiegen, um Medienvertretern direkt auf der Schiene sein neues Sanierungskonzept zu präsentieren, das einer Revolution gleichkommt. Mitgebracht hat er mehrere Bahnvorstände und Sanierungsverantwortliche.

Die Bahn ist katastrophal unpünktlich geworden

Die Deutsche Bahn erlebt gerade eine permanente Pünktlichkeitskatastrophe. Dabei steckt die Bahn in einer doppelten Falle. Wichtige Neubauprojekte kommen nur langsam voran und binden Ressourcen, gleichzeitig wächst die Störanfälligkeit auf den bestehenden Strecken dramatisch an. Hier rächt sich, dass die Infrastruktur über viele Jahre verschlissen wurde. Dazu kommt eine wachsende Nachfrage im Personen- und Güterverkehr, die die Bahn derzeit nicht bedienen kann.

Das treibt Wissing hörbar um: „So kann es nicht weitergehen. Wir müssen uns in den nächsten Jahren auf das Machbare konzentrieren.“ Der Ausbau des Netzes sei wichtig und notwendig. „Die Frage ist aber doch: Was tun wir kurzfristig für mehr Pünktlichkeit?” Da habe er „leider nicht viel vorgefunden im Ministerium”, klagt Wissing, seit Dezember 2021 im Amt. Berthold Huber, seit Mitte 2022 Infrastrukturvorstand bei der Deutschen Bahn, drückt es drastisch aus: „Wir sind an einem Punkt, an dem wir irgendwann gar nicht mehr fahren können.“

Wir sind an einem Punkt, an dem wir irgendwann gar nicht mehr fahren können.

Berthold Huber Infrastrukturvorstand der Deutschen Bahn AG
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Wissings Antwort ist ein Strategiewechsel bei der Instandhaltung des Netzes. Bisher, so erklärt der Minister, galt die Regel, dass nur repariert werde, was verschlissen oder schon kaputt ist. Wobei man beim Verschleiß seit vielen Jahren zu wenig getan hat, weshalb nun viel kaputtgeht. Das führt dazu, dass praktisch überall ständig repariert werden muss. Diese „Spontanbaustellen” werfen den Fahrplan täglich über den Haufen. Allerdings finden auch geplante Bauarbeiten und Sanierungen heute stets „unter rollendem Rad“ statt, also bei laufendem Betrieb. Das aber verzögert die Bauzeit und führt zu vielen Verspätungen.

Aus diesem Teufelskreis will man sich befreien: Saniert wird nicht mehr häppchenweise, sondern einmal richtig. Dafür werden die betroffenen Strecken für die Bauzeit gesperrt. Angewandt werden soll das Konzept zunächst auf den acht am stärksten genutzten Eisenbahnkorridoren; begonnen wird Mitte 2024 mit der Strecke Frankfurt–Mannheim, die dann für fünf Monate gesperrt wird. Frankfurt–Mannheim, das ist die sogenannte Riedbahn, die rechts des Rheins durch Südhessen verläuft. Der Name verweist auf das Hessische Ried. Nach 1945 wurde die Riedbahn elektrifiziert, nach 1980 für Tempo 200 km/h ausgebaut, die Signaltechnik stammt allerdings noch aus den sechziger Jahren. Mit mehr als 300 Zügen täglich bewältigt die Riedbahn mit das höchste Verkehrsaufkommen im Netz, weshalb auch eine Neubaustrecke weiter östlich in Planung ist.

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Deutsche Bahn: 500 Millionen Euro für die Sanierung von 75 Schienenkilometern

Seit Jahren ist die Riedbahn sehr störanfällig. Gebaut wird dort auch jetzt schon, einige Abschnitte sind nur eingleisig befahrbar. Weil die Riedbahn laut Wissing so etwas wie die „Aorta“ im DB-Netz ist, hat jede Störung unmittelbar Auswirkungen auf weite Teile des Fernverkehrs der Bahn. Philipp Nagl, Vorstandsvorsitzender der DB Netz, sagt: „Wenn hier etwas schiefgeht, sind 16 oder 20 Fernzüge in der Pünktlichkeit komplett kaputt.“ Derzeit gibt es auf den knapp 75 Schienenkilometern zwischen Frankfurt und Mannheim im Schnitt eine Störung pro Tag. Eine solche Störung oder eine Baustelle auf der Riedstrecke sorgten stets für „Durchblutungsstörungen im Gesamtnetz”. Wissing wird deshalb grundsätzlich: „Die Sanierung unter dem rollenden Rad ist unterm Strich gescheitert.“

Wenn hier (auf der Riedstrecke) etwas schiefgeht, sind 16 oder 20 Fernzüge in der Pünktlichkeit komplett kaputt.

PN
Philipp Nagl Vorstandsvorsitzender der DB Netz AG

Deshalb soll die Aorta Riedbahn nun gründlich entkalkt werden. Das bedeutet: Das Gleisbett wird erneuert, 170 Kilometer Fahrdrähte, 117 Kilometer Gleise und alle 152 Weichen werden ausgetauscht. Außerdem wird die Signaltechnik digitalisiert, die Stellwerke werden an einem Standort konzentriert. Ferner werden drei neue Überholmöglichkeiten für Züge geschaffen. Damit nicht genug: Alle 20 Bahnhöfe der Strecke werden saniert, zehn Kilometer Lärmschutzwände werden neu errichtet.

Ein Regional-Express fährt auf der Riedbahn genannten Bahnstrecke Mannheim-Frankfurt am Bahnhof Lampertheim.
Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP, rechts) unterhält sich während einer Besichtigung der Riedbahn auf dem Bahnhof Lampertheim mit DB-Infrastrukturvorstand Berthold Huber.
Ein Regional-Express fährt auf der Riedbahn genannten Bahnstrecke Mannheim-Frankfurt.
Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) erläutert im RE 70 auf dem Weg von Frankfurt nach Mannheim die bevorstehende Generalsanierung der Riedbahn-Strecke Frankfurt–Mannheim.

Unmittelbar nach dem Endspiel der Fußball-EM soll es losgehen

Los geht es unmittelbar nach dem Endspiel der Fußball-EM im Juli 2024; nur fünf Monate später, rechtzeitig zum Weihnachtsverkehr, will man fertig sein. Für das Netz der Bahn ist das eine Operation am offenen Herzen. Damit sie gelingt, müssen vorher Bypässe, also Umleitungen gelegt werden. Deshalb wird derzeit intensiv an den Parallelstrecken gearbeitet, weil sie während der Sperrung den Fern- und Güterverkehr aufnehmen müssen. Der Nah- und Regionalverkehr wird mit Bussen organisiert. Insgesamt will die Bahn in dem Projekt nach jetziger Planung 500 Millionen Euro investieren. Nach der Sanierung, verspricht Nagl, werde man auf der Riedbahn „acht bis zehn Jahre Baufreiheit“ haben. Hinzu kämen die neuen Überholmöglichkeiten und weitere Ertüchtigungen. „Mit fünf Monaten Bauzeit kriegen wir 25 Prozent mehr Verfügbarkeit auf der Strecke“, sagt Wissing. Für eine Hochleistungsstrecke wie die Riedbahn sei das enorm viel, betont Nagl.

Was wir jetzt machen, ist richtig groß.

Volker Wissing Bundesverkehrsminister

Über viele Jahre ist die Bahn auf Verschleiß gefahren

Infrastrukturvorstand Huber verdeutlicht den strategischen Ansatz: Die schnelle Sanierung der Hochleistungskorridore sei eine realistische Möglichkeit, im vorhandenen Netz rasch neue Kapazitäten zu heben. DB-Netz-Vorstand Nagl ergänzt: „Wir holen jetzt alles aus den Strecken heraus, was ohne zusätzliche Gleise möglich ist.“ Diese Leistungssteigerung sei dringend nötig, sagt Wissing: „Wir müssen in diesem Jahrzehnt zusätzliche Verkehre aufnehmen.” Dafür liefere die Sanierung der Riedbahn nun die Blaupause. Sie sei deshalb auch kein regionales Projekt, „sondern von nationaler Bedeutung“.

Es stellt sich die Frage, warum die Bahn erst jetzt diesen Schwenk vollzieht. Fest steht, dass über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte auf Verschleiß gefahren wurde. Das kann man dem Bahnmanagement weniger anlasten als der Politik: Weil immer wieder zu wenig Geld für die Instandhaltung bereitgestellt wurde, waren die Netzleute bei der Instandhaltung gezwungen, sich auf das Nötigste zu beschränken. Hinzu kommen haushaltstechnische Hindernisse: Bundesmittel zur Instandhaltung gibt es – grob vereinfacht – nur für das, was wirklich kaputt ist. Der Austausch einer Signalanlage, die noch nicht am Ende ihrer Lebenszeit angekommen ist, wird nicht bezahlt. Damit sollte die Verschwendung von Steuergeldern verhindert werden, doch führte die Regelung letztlich zu einem Regiment der Flickschusterei. Dem will Wissing nun ein Ende bereiten. Dabei helfen wohl auch Gelder aus dem Klimaschutzfonds.

Gelingt die Operation am offenen Herzen im südhessischen Ried, sollen weitere Generalsanierungen bald folgen, als nächste Strecken stehen Hamburg–Berlin und Emmerich–Oberhausen schon fest. Wann und wo es danach weitergeht, hängt auch von Finanzminister Christian Lindner (FDP) ab. Der Nachholbedarf ist jedenfalls enorm. Bis 2030 will die Bahn 4200 ihrer 36.000 Kilometer Schienen generalsanieren – das dürfte in die Milliarden gehen. Wissing verbreitet Zuversicht im RE 70 zwischen Frankfurt und Lampertheim: „Wir können nicht zaubern, aber wir können kurzfristig machbare Lösungen in Angriff nehmen.“ Das nötige Geld dafür sei in den beiden nächsten Bundeshaushalten vorhanden. Am Finanzrahmen darüber hinaus müsse aber noch gearbeitet werden. Wissing: „Was wir jetzt machen, ist richtig groß.“