Die Reaktivierung regionaler Strecken könnte die Verkehrswende voranbringen, findet Pro Bahn. Lässt ausgerechnet der grüne Verkehrsminister Al-Wazir diese Chance verstreichen?
WIESBADEN. Der Fahrgastverband Pro Bahn wirft der hessischen Landesregierung mangelndes Engagement bei der Reaktivierung regionaler Bahnstrecken vor. In der mittlerweile achtjährigen Amtszeit von Verkehrsminister Tarek Al-Wazir seien „keine neuen Reaktivierungsprojekte im realen Ablauf gestartet beziehungsweise umgesetzt worden“, heißt es in einer Mitteilung des Verbands.
Für einen grünen Verkehrsminister sei das ein schwaches Bild, meint Uwe Schuchmann vom Pro-Bahn-Landesverband Hessen. Anlass der Kritik ist die Veröffentlichung der „Übersicht zur Reaktivierung von Schienenstrecken für den Personenverkehr in Hessen“ durch das Verkehrsministerium vor einigen Tagen. Aktuell unterziehe man 24 Strecken „einer vertieften Betrachtung, davon sieben Strecken erstmalig“, so das Ministerium.
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Konkrete Planungen gebe es für drei Strecken, darunter Wölfersheim–Hungen (Horlofftalbahn), die Ende 2025 wieder in Betrieb gehen solle. Für acht weitere Strecken liefen Voruntersuchungen oder Machbarkeitsstudien. Außerdem verweist das Ministerium auf die bereits erfolgte Reaktivierung von insgesamt sieben Streckenabschnitten, die teilweise aber schon mehr als 20 Jahre zurückliegen.
Pro Bahn hält diese Auflistung nicht nur deshalb für Etikettenschwindel. Als wirklich vollzogene Reaktivierungen könne man nur die untere Edertalbahn Korbach–Frankenberg (2015, 31 Kilometer), die Pfungstadtbahn im Kreis Darmstadt-Dieburg (2011, 2 Kilometer) und die nördliche Taunusbahn Grävenwiesbach–Brandoberndorf (1999, 7 Kilometer) zählen; die anderen Strecken hätten alle einen Bezug zum Ausbau der S-Bahn im Großraum Frankfurt.
Dreh- und Angelpunkt bei Reaktivierungen von Bahnstrecken ist die Nutzen-Kosten-Untersuchung (NKU). Viele Initiativen sind in der Vergangenheit an dieser Hürde gescheitert – weil sich die Sache nach den damals geltenden Kriterien nicht lohnte. Nach langem Hin und Her wurden diese Kriterien aber auf Bundesebene überarbeitet, und zwar mit dem Ziel, Reaktivierungen im ländlichen Raum eine größere Chance einzuräumen. Die neuen Regeln sind seit Juli in Kraft, und auf diese wichtige Änderung weist das Ministerium in seiner neuen Übersicht auch ausdrücklich hin.
Unverständnis bei Pro Bahn
Umso unverständlicher erscheint es Pro Bahn, dass nun eine Reihe von möglichen Strecken zurückgestellt oder gleich aussortiert wurden, ohne das neue Bewertungsverfahren auf sie anzuwenden. Das betrifft zum Beispiel die Strecken Dillenburg–Ewersbach (Dietzhölztalbahn) und Grävenwiesbach–Weilburg (Weiltalbahn), bei denen es laut Ministerium „erhebliche Hindernisse für eine Reaktivierung“ gibt. Pro Bahn zweifelt diese Einschätzung an. Beispiel Dietzhölztalbahn: Hier hätten die Gutachter bei der Berechnung trotz Reaktivierung die schienenparallele Buslinie nahezu unvermindert weiterfahren lassen.
Die in Südhessen intensiv diskutierten Strecken Reinheim–Groß-Bieberau (Gersprenztalbahn) und Dieburg–Groß-Zimmern wurden vom Land ganz aufgegeben, weil die Machbarkeitsstudien ein negatives Ergebnis erbracht hätten. Auch das hält Pro Bahn für einen Fehler. Ohne Kenntnis möglicher Fahrgastzahlen sei die Strecke Reinheim–Groß-Bieberau im Frühjahr 2018 für den Güterverkehr stillgelegt worden, was eine Reaktivierung für den Personenverkehr deutlich verteuern würde.
Es sei „ein Unding, dass Projekte aussortiert wurden, ohne dass die neuen Bewertungskriterien auf sie angewendet wurden“, schimpft Schuchmann. Aber auch schon vorher sei die Prüfung oft lieblos erfolgt. Teilweise könne die Landesregierung nicht einmal sagen, wie viele Fahrgäste die Züge nutzen würden. Pro Bahn spricht deshalb von einem „Vorsatz zum Scheitern“.
Landesregierung wird nicht von sich aus aktiv
Das in seinen Augen mangelnde Interesse am Thema macht Schuchmann auch daran fest, dass die Landesregierung nicht von sich aus aktiv wird, sondern stets auf lokale Initiativen oder Vorstöße von Verkehrsanbietern warte. „Statt lokalen Widerständen gegen Reaktivierungen aktiv zu begegnen, lässt das Land weiterhin Eisenbahnstrecken stilllegen“, moniert der Fahrgastverband.
Das hessische Wirtschaftsministerium reagierte bis Freitagabend trotz Nachfrage nicht auf die Kritik von Pro Bahn.