In unsicheren Zeiten werden Psychotherapeuten gebraucht. Doch wegen des Coronavirus gestaltet sich der Kontakt zwischen Arzt und Patient zurzeit schwierig.
MAINZ. Es gibt nicht nur die eine Angst vor Corona. Die Furcht vor den gesellschaftlichen Veränderungen, die die Pandemie bewirken könnte, die Angst um Angehörige, die zur Risikogruppe gehören, vor Jobverlust oder vor der Einsamkeit, die dem Einzelnen in diesen Zeiten der Kontaktbeschränkung bewusst gemacht wird, wiegt bei den meisten sogar schwerer als die vor einer Infektion. „Corona hat menschliche Urängste geweckt“, erklärt Psychotherapeut Dieter Adler. „Wir hatten keine natürlichen Feinde mehr und glaubten, auch die Krankheiten, die uns heimsuchen können, einigermaßen im Griff zu haben.“ Jetzt aber sehe sich die Menschheit „einem vernichtenden Gegner gegenüber, der unsichtbar ist und gegen den anscheinend kein Kraut gewachsen ist“.
Wege zu zeigen, wie sich mit solchen Ängsten umgehen lässt, ist eigentlich das Kerngeschäft Adlers und seiner Berufskollegen. Als Erster Vorsitzender des Deutschen Psychotherapeuten Netzwerks, das 1400 Mitglieder zählt, hat der 61-Jährige einen ungefähren Überblick über das, was in deren Sprechstunden zurzeit abläuft – oder auch nicht, denn: „Einige haben ihre Praxis mittlerweile geschlossen, weil sie selbst zur Risikogruppe gehören.“ Der Anteil an Über-Sechzigjährigen ist in diesem Berufsstand recht groß.
Kollegen, die Gruppentherapien anbieten, hätten Schwierigkeiten, in ihren Stuhlkreisen die geforderten zwei Meter Abstand zu gewährleisten, daher würden diese oft abgesagt. Auch wer auf Einzeltherapien spezialisiert sei und Patienten mit Angststörungen behandelt, müsse mit Absagen leben. Die Sorge, sich zu infizieren, halte viele Angstpatienten ab, ihre Behandlungstermine wahrzunehmen.
Seit Anfang April erlauben die Gesetzlichen Krankenkassen Psychotherapeuten, auch lediglich telefonisch abgehaltene Sprechstunden abzurechnen. Video-Konsultationen sind schon länger erlaubt. Die aber würden weniger wahrgenommen als erhofft, hat Adler festgestellt: „Einmal, weil sowohl ältere Patienten als auch ältere Therapeuten mit der Technik überfordert sind, und einmal, weil dafür die Internetverbindungen vielerorts immer noch nicht stabil genug sind.“ In diesen Tagen seien die Netze erst recht überlastet.
Adler selbst nutzt nun in Einzelfällen ebenfalls das Telefon – und sieht darin kein Problem, „wenn es sich um einen Patienten handelt, den ich schon länger kenne“.
Doch was ist mit denen, die zum ersten Mal therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen wollen? Die telefonische Behandlung von Patienten, die dem Therapeuten noch unbekannt sind, erlauben die Kassen bislang nämlich nicht.
„Das kommt fast einer Beihilfe zur unterlassenen Hilfeleistung gleich“, schimpft Peter Andreas Staub, Vorstandsmitglied der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Rheinland-Pfalz. „Wer soll sich denn um die Covid-19-Kranken kümmern, die unter Quarantäne stehen und Gefahr laufen, suizidal zu werden? Wer um isolierte Heimbewohner, wer um infizierte Angehörige der Heil- und Pflegeberufe?“ Wie Staub fordert auch Gerhard Hentschel, Vorsitzender der Deutschen Psychotherapeuten-Vereinigung (DPtV), die Abrechnung telefonischer Behandlungen auch unbekannter Patienten schnell zuzulassen.
Adler sieht das differenzierter. Grundsätzlich sei ein Psychotherapeut kein Telefonseelsorger, eine wirkliche Therapie nicht am Fernsprecher zu leisten. Zudem stünden Therapieplätze in der Regel nicht ad hoc zur Verfügung. Einer Studie zufolge betrug die Wartezeit auf ein Erstgespräch in Rheinland-Pfalz 2018 durchschnittlich sechs Wochen.
Dass es derzeit erhöhten Bedarf nach therapeutisch versierten Ansprechpartnern gibt, steht jedoch außer Frage. Ein solcher kann aber auch der Hausarzt sein. Und bereits Infizierte werden ohnehin in Kliniken betreut. Außerdem sind viele Corona-Hotlines eingerichtet worden, von denen einige auch mit Psychotherapeuten besetzt sind.