Mit ihren Panoramawagen bietet die Rhätische Bahn atemberaubende Aussichten auf verschneite Burgenlandschaften zwischen Chur und Tirano.
Von Sven Hollerich
Die Züge der Rhätischen Bahn passieren auf der Strecke von Chur über St. Moritz und den Bernina-Pass nach Tirano 196 Brücken und Viadukte.
(Foto: Sven Hollerich)
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Lokführer Dani Gujer wartet bereits. Im Bahnhof Chur hat er seine Lok vor die 14 roten Wagen gespannt.
Bald wird Gujer den roten Lindwurm der Rhätischen Bahn über die legendäre Albula-Strecke in Richtung St. Moritz steuern, mitten durch den Winter des Oberengadins. Bis zur Passhöhe des St. Bernina auf 2253 Metern gilt es nicht weniger als 1660 Höhenmeter und Steigungen von bis zu 70 Prozent zu bewältigen.
Auf der knapp viereinhalb Stunden langen Eisenbahnfahrt ins italienische Tirano wird er 196 Brücken und Viadukte, 55 Tunnels und Galerien passieren. Der Bernina-Express durchquert dabei alle drei Sprachregionen Graubündens. Nach der Abfahrt in Chur fährt der Zug zuerst einmal durch das Hinterland der ältesten Stadt der Schweiz.
Auf lang gezogenen Geraden geht es vorbei an Obstplantagen – und an Burgen. Der Landstrich gilt als die burgenreichste Gegend Europas. Schon bald muss Gujer seinen Zug dicht am Fels entlang durch enge Kurven bergan steuern. Drunten im Tal liegt das Wasserkraftwerk Sils im Domleschg, aus dem die Rhätische Bahn ihren Strom bezieht.
Immer wieder fährt der Zug in einen der unbeleuchteten Tunnel. Nur das Scheinwerferlicht der Lok erhellt die Tunnelröhren. Nackte und schroffe Felswände zeugen von den Sprengarbeiten beim Bau der Bahnstrecke.
„Kaum vorstellbar, wie solch eine technische Meisterleistung Ende des 19. Jahrhunderts überhaupt möglich war“, würdigt Dani Gujer die Pioniere des Eisenbahnbaus in Graubünden. Heute verschlingt die Unterhaltung der Bahnstrecke mehrere Millionen Schweizer Franken pro Jahr.“
Unmittelbar nach dem Tunnel überquert der Zug die Schinschlucht auf dem rund 90 Meter hohen Solisviadukt. Die Schinschlucht ist ständig in Bewegung. Beim Neubau einer Brücke mussten daher deren Pfeiler 16 Meter weit in den Boden verankert werden. Schon bald danach steht das weltbekannte Landwasserviadukt über das Albulatal auf dem Sightseeing-Programm.
Die 65 Meter hohe majestätische Bogenbrücke steht bereits am südlichen Zipfel der Schmittener Gemarkung – dem Ziel unserer Reise. Die 136 Meter lange Brücke ist wohl die weltweit bekannteste Eisenbahnbrücke der Schweiz. Hinter dem Tal grenzt sie an der Nordostseite direkt an eine senkrechte Felswand, die vom nächsten Tunnel durchdrungen wird.
Kurz vor Bergün beginnt es, bei Temperaturen um den Gefrierpunkt zu schneien. Auf der anschließenden Steigungsstrecke hinauf zum Eingangsportal des Albula-Tunnels in Preda (1789 Meter) wird es kritisch. Bei starkem Schneefall drehen die Antriebsachsen der Lok auf den Gleisen durch und quietschen schrill.
Gujer nennt das den „Makro Schlupf“. Um den zu verhindern, lässt er per Knopfdruck immer wieder Sand aus Kammern oberhalb des Fahrgestells auf die Gleise rieseln. Er soll die Reibung auf den Schienen verbessern. „Bei Schneeregen werden die Gleise ganz glitschig“, meint Gujer und blickt nachdenklich gen Himmel. „Da kommt es schon einmal vor, dass ich nach einem roten Signal stecken bleibe.“ Doch der Lockführer schafft es dennoch, den Bernina-Express fahrplanmäßig nach Preda zu steuern.
Schwere Maschinen und endlose Förderbänder rund um den Bahnhof zeugen von der aktuell wohl größten Eisenbahn-Baustelle der Schweiz. Seit gut drei Jahren treiben hier die Tunnelbauer den Stollen für den Neubau des Albulatunnels voran. Zeitgleich wurde der 5860 Meter lange Tunnel von Spinas, dem Südportal im Oberengadin gebaut. Im Oktober 2018 erfolgte der Durchstich. „Insgesamt wurden 250 000 Kubikmeter Gestein ausgebrochen und das Material auf Förderbändern für die Beton- und Schotterproduktion nach Preda transportiert“, teilt dazu die Rhätischen Bahn mit.
Im Oberengadin erwartet die Zugreisenden herrlichster Sonnenschein. Vor der Kulisse des tief verschneiten Piz Bernina, dem mit 4048 Metern höchsten Bündner Berg, beginnen ab St. Moritz 61 Kilometer Eisenbahn-Abenteuer pur. Auf der Reise über den Berninapass bieten sich für die Fahrgäste in den Panorama-Wagen fantastische Ausblicke.
In der Gründerzeit hatten die Eisenbahn-Pioniere damit vor 130 Jahren die am höchsten gelegene, ganzjährig betriebene Bahnverbindung über die Alpen geschaffen. Nach der Passhöhe geht es spektakulär talabwärts zum Zielort unserer Reise, dem italienischen Tirano im Poschiavo.
Im Winter ist die Albulapassstraße für Autofahrer gesperrt. Dann gehört sie den Rodelfreunden und garantiert einen ultimativen Winterspaß. Vom Bahnhof Bergün fährt alle 30 Minuten ein Pendelzug mit großen Gepäckabteilen für die Schlitten hinauf nach Preda.
Nach Ankunft des Zuges in Preda verlassen die Wintersportler sofort den Zug. Möglichst rasch ziehen sie die Schlitten zum Start der „Schlittelbahn“, wie die Schweizer sagen. Wer möchte, der legt einen kurzen Stopp beim nahen Hotel Preda Kulm ein. Punsch oder Glühwein wärmen ein letztes Mal innerlich auf.
Vom Hotel aus sind es noch wenige hundert Meter bis zum eigentlichen Start auf einer Brücke über die Bahnstrecke. Die dort beginnende sechs Kilometer lange Rodelfahrt auf der kurvenreichen Passstraße hat einen extrem hohen Suchtfaktor. 400 Höhenmeter talabwärts in rund zehn Minuten – und das auf heißen Kufen.
Die Schlitten können an beiden Bahnhöfen ausgeliehen werden. Von Mitte Dezember bis März ist die Albulapassstraße für den ultimativen Schlittenspaß freigegeben – ausreichend Schneeauflage vorausgesetzt.