Murten leuchtet: Mit dem Lichtfestival lockt die Stadt...

Zum Einbruch der Dunkelheit gibt es ein buntes  Farbenspiel über Murten. Foto: Adrian Scherzinger

Fabelwesen und Lichtgestalten regieren die Straßen der kleinen Stadt. Mit bunten Lichtshows und -installationen rücken die Schweizer der tristen Winterstimmung zu Leibe.

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ie Hauptgasse glüht in geheimnisvollem Blau. Gigantische Heliumdrachen, die an Wale oder Riesenkalmare erinnern, wiegen sich sacht über den Köpfen der Zuschauer. Die Figuren werden von Helfern bewegt, die die Fabelwesen im Zeitlupentempo an Schnüren führen. Nur ein paar Schritte entfernt, im Hof des Schlosses aus dem 13. Jahrhundert, wabern holographische Windspiele und zaubern einem Kaleidoskop gleich immer neue visuelle Effekte auf Mauern und Türme. Hinter der französischen Kirche liegt ein Ballsaal im Freien. Elegante Abendgarderobe hängt in den Zweigen der Platanen, Musik erklingt und animiert die Besucher, einen Tango in frostiger Nacht zu wagen. Ann Lee Zwirner heißt die Künstlerin, die dieses Tanzvergnügen ausgerichtet hat. Von Anfang an ist sie beim Lichtfestival in der Westschweizer Stadt Murten dabei.

Aber der Reihe nach. Die dunkle Jahreszeit ist geprägt von der Sehnsucht nach Licht. Manchmal spendet die Natur derlei Spektakel, mit Sternenglanz, Mondschein oder so exquisiten Launen wie dem Nordlicht in der Polarregion.

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Manchmal aber muss der Mensch nachhelfen mit seiner Kreativität und Phantasie. Die „Fête des Lumières in Lyon“ etwa gilt europaweit als einzigartiges Lichtspektakel. Es ist inzwischen so bekannt und berühmt, dass man ein Hotelbett mindestens ein Jahr im Voraus buchen sollte. Von Murten aus sind es nur zwei Autostunden nach Lyon. Wer sich in der Westschweiz für Lichtkunst und visuelle Installationen interessierte, fuhr mal eben nach Lyon und in der gleichen Nacht zurück.

„Lyon war das Vorbild und der Anstoß, auch hier ein Festival zu wagen“, sagt Künstlerin Ann Lee Zwirner. 2016, im ersten Jahr, kamen dafür bereits 80 000 Besucher nach Murten. Das ist deshalb so erstaunlich, weil Murten, das auf Französisch Morat genannt wird, nur etwas mehr als 8000 Einwohner hat, von denen wiederum nur ein kleiner Teil innerhalb der Festungsmauern der mittelalterlichen Altstadt wohnt. Diese bildet die Bühne für das inzwischen auch hier etablierte Lichtfestival mit mehr als zwei Dutzend Installationen, mindestens ebenso vielen beteiligten Künstlern und etwa 150 Sponsoren. „Arteplages“ nennen sich die Schauplätze der Lichtkunst: Orte, an die es die Kunst wie exquisites Strandgut gespült hat. Stéphane Moret, Leiter von Murten Tourismus, formuliert für die Zukunft ein anspruchsvolles Ziel: „Murten soll die Lichthauptstadt der Schweiz werden“.

„Murten ist eine typische Zähringerstadt wie auch Bern, Thun und Freiburg im Breisgau, aus dessen Umgebung ja das Geschlecht der Zähringer stammt“, sagt Stadtführerin Heidi Buschbauer. „Das Stedtli, wie wir hier sagen, hat eine breite Hauptgasse mit Laubengängen, zwei Nebengassen in Längsrichtung und einer Querverbindung. Das alles lässt sich in einer Viertelstunde ablaufen. Man sollte aber viel mehr Zeit mitbringen. Besonders während des Lichtfestivals.“

Vor dem mächtigen Berntor, das in die Altstadt führt, muss man innehalten. Nicht nur, weil hier die Stände mit Glühwein und Punsch aufgebaut sind, sondern auch, weil auf dem gegenüber liegenden Gebäude der Primarschule allabendlich alle 45 Minuten das größte Spektakel des Festivals in Szene gesetzt wird. Das mächtige buttercremegelbe Schulhaus aus dem 19. Jahrhundert hat Eingänge für Knaben, Mädchen und Lehrer. Vor allem aber bietet es eine Fassade, die groß genug ist, um als Hintergrund für die Projektionen zu dienen. Ausgerichtet wird die Schau alljährlich von dem 1987 im bretonischen Rennes gegründeten Lichtkunstunternehmen „Spectaculaires“, das auch schon in Lyon gewirkt hat und dort einen Publikumspreis gewann. Immer auch hat diese Inszenierung der Örtlichkeit halber etwas mit dem Thema Schule zu tun. Im letzten Jahr drehte sich die Episode „Sages comme des Images“ um einen krankheitsbedingten Lehrerausfall und die abenteuerlichen Erlebnisse, die die allein gelassenen Zöglinge ohne ihre Erzieher im Schulhaus erlebten. Hexen, Riesen und Dinosaurier ließen die Anstalt bis in die Grundfesten erbeben – zumindest als temporäre Illusion.

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Was das Lichtfestival in Murten besonders charmant macht, sind jene Installationen die mit ganz einfachen Mitteln die Bewohner einbinden. Kinder, die ihre Zeichnungen auf mittelalterliche Türme projiziert sehen, Jugendliche, die mit ein wenig Programmierarbeit selbst kreierte Emojis auf den Quadern der Ringmauer zum Leuchten bringen. Menschen, die ihre Schatten auf der grellbunt illuminierten Fassade eines Gotteshauses tanzen lassen oder ihre Gesichter mittels einer Kamera als Gigantenantlitz in Baumkronen projizieren.

Weil Murten im Westschweizer Drei-Seen-Land liegt, ist natürlich auch der Murtensee in das Festival eingebunden. Im Sommer gilt er als einer der wärmsten Badessen Helvetiens, jetzt glimmt er kalt und still in der früh einsetzenden Dunkelheit. Bunt glühende Boote ziehen ihre Runden über das nachtschwarze Wasser. Das Schilf ist geheimnisvoll erleuchtet und am Seeufer setzen große und kleine Besucher ihre Wunschlaternen mit der Bitte um Frieden, Toleranz oder privates Glück und Gesundheit vorsichtig aufs Wasser.

Mal auf Deutsch, mal auf Französisch sind die Anliegen formuliert, denn Murten, respektive Morat, ist ein zweisprachiger Ort. Napoleon hat ihn einst, gegen den Willen der Bevölkerung, endgültig dem Kanton Fribourg zugeschlagen, wo man überwiegend Französisch spricht. Die Murtner hingegen sind bis heute zu vier Fünfteln deutschsprachig, was sie aber nicht daran hindert, das gesamte Festival zweisprachig zu inszenieren.

Toleranz und Pragmatismus sind der Schlüssel des Zusammenlebens dieser zwei Kulturen. Deutschschweizer gelten als verlässlich und verantwortungsbewusst, zuweilen aber auch als „Tüpflischiesser“, was soviel wie Korinthenkacker meint. Den frankophonen „Romands“ werden Eleganz und Eloquenz ebenso wie ein Hang zur Überheblichkeit nachgesagt. Die guten Tropfen vom benachbarten Weinbaugebiet Mont Vully trinken alle gern. Der für Murten berühmte Kuchen mit kandiertem Rahm wird deutschsprachig „Nidelkuchen“ genannt, sein herzhaftes Pendant mit Speckbelag heißt „Gâteau du Vully“. Merci sagt man sowieso hüben wie drüben. Angesichts der bunt leuchtenden Traumbilder des Lichtfestivals fehlen den meisten Besuchern ohnehin die Worte. Magische Momente lassen sich am schönsten als stilles Staunen erleben.

Von Claudia Diemar