Campen bei minus 30 Grad Celsius? Für die Menschen im hohen Norden ist das kein Problem. Die Finnen lieben ihren Winter und verbringen am liebsten jede freie Minute in der Natur.
. Der Schnee knistert unter den sperrigen Schneeschuhen, irgendwo hinter den weißen Hügeln rauscht ein Fluss. In der Ferne bewegt sich ein schwarzer Punkt, der immer größer wird. Es ist ein junger Mann, mit einem großen Wanderrucksack auf den Schultern. Um ihn herum hüpft fröhlich sein Hund. Seit fünf Tagen ist er nun im Oulanka-Nationalpark in Finnisch-Lappland unterwegs. Allein, mit seinem treuen, pelzigen Freund und Begleiter. Die letzten Nächte hat er unter freiem Himmel in verschiedenen Camps übernachtet. Nur ein Schlafsack schützte ihn vor Temperaturen von bis zu 30 Grad Celsius unter dem Gefrierpunkt. Völlig normal für Finnland zu dieser Jahreszeit. Der junge Mann wollte in die Wildnis, um eine Weile für sich zu sein, um den Kopf frei zu kriegen, erzählt er der deutschen Wandergruppe, die zum ersten Mal auf einer Schneeschuhwanderung das Naturschutzgebiet erkundet. Er selbst nehme sich diese Auszeit jedes Jahr, immer im Winter. Er genieße die friedliche Stille, sagt der Wanderer.
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„Solche Touren sind für uns nicht ungewöhnlich“, sagt Fremdenführerin Tessa, „denn in Finnland gilt das Jedermannsrecht. Es erlaubt jedem Menschen, in der Natur zu übernachten, und zum Beispiel Beeren und Pilze zu sammeln“. Dabei müsse man auch nicht auf den vorgegebenen Wanderwegen bleiben. Lediglich für das Feuermachen gebe es ausgewiesene Plätze.
Der Wanderer verabschiedet sich und lässt die Gruppe beeindruckt zurück. 270 Quadratmeter misst das Naturschutzgebiet, das im Osten an Russland grenzt. Die sauberste Luft füllt die Lungen der Besucher und es eröffnet sich das Panorama eines verwunschenen Märchenwaldes. Hier in Finnland leben wilde Braunbären, ob der junge Mann mit seiner Abenteuerlust sein Leben aufs Spiel setzt? Vor wilden Tieren brauche man keine Angst zu haben, beruhigt Guide Janis. „Der Bär wird dich sehen, er wird dich hören aber als erstes wird er dich schon von Weitem riechen. Und manchmal begleiten dich die Tiere über einen längeren Streckenabschnitt, ohne dass du es selbst merkst. Doch sie lassen dich in Frieden.“ Besondere Vorsicht sei geboten, wenn die Bären Junge haben, doch solange man sich ihnen nicht offensiv nähere, könne nichts passieren.
Jetzt, wo die Tiere ohnehin im Winterschlaf sind, kann man entspannt am Flussufer des Nationalparks eine kleine Rast einlegen. Der Guide holt eine Thermoskanne aus seinem Rucksack und versorgt die Wanderer mit einem wohltuenden Getränk: Es gibt heißen, süßen Saft aus roten Beeren. „Den haben wir immer im Gepäck, er wärmt von innen und spendet Energie“.
Ein Stück flussaufwärts steht am Ufer eine Holzhütte, deren Terrasse ein beliebter Arbeitsplatz von Naturfotografen ist. Gleich mehrere haben hier ihre Kameras mit riesigen Objektiven aufgebaut – sie sind auf der Jagd nach dem perfekten Foto eines kleinen Vogels. Der Kukkeli, zu Deutsch der Unglückshäher, ist hier heimisch, doch er lässt sich nicht allzu oft blicken. Auf der Suche nach Nahrung taucht der Vogel mit orange-braunem Gefieder in den eisigen Fluss. Dieses Schauspiel lockt wahre Stars der Naturfotografie in den Nationalpark.
An einem anderen Naturphänomen kommen auch die Kameras der Wandergruppe nicht ohne Foto vorbei: Immer wieder sieht man an den Zweigen der Bäume etwas, das an Haarbüschel erinnert. „Es ist eine feine Flechtenart, die nur in Regionen wächst, wo die Luft besonders sauber ist“, klärt Tessa auf. Außerdem sei das Gewächs die Leibspeise der Rentiere – „Rentierschokolade“, so nennen es die Einheimischen.
Die Wanderung ist sehr intensiv, es ist anstrengend durch den Schnee zu stapfen – deshalb gibt es anschließend auch ein deftiges, regionales Essen, um die Energiespeicher wieder aufzuladen. Auf den Teller kommen Pilzsuppe, Elchgulasch oder Rentierburger – und da ist auch wieder die Rentierschokolade, knusprig angebraten auf der Suppe. Den Speiseplan der Finnen dominieren Lebensmittel, die die Natur in Lappland zur Verfügung stellt. Vieles kommt aus dem Wald – Pilze, Kräuter, Beeren. Doch jetzt ist die Speisekammer im Winterschlaf.
Abseits des Trubels in den meist überschaubaren Städten ist es still, als stünde man in einem mit Samt ausgeschlagenen Raum. „Die Natur zieht sich im Winter zurück, die Tiere sind im Winterschlaf, alles fährt runter und spart Kraft“, sagt Tessa. Wie gequälte, versteinerte Riesen sehen die Bäume aus. Sie sind in den fantasievollsten Formen erstarrt, als die feuchte, kalte Luft vom Weißen Meer aus Russland auf sie traf und ihre Zweige umhüllend Schicht für Schicht gefror. „Tykkylumi – so heißt dieser Schnee, der die Äste bedeckt“, sagt die Fremdenführerin. Direkt übersetzen könne man den Ausdruck nicht. Die Finnen haben mehr als 200 Wörter für Schnee. Tykkylumi ist eines davon.
Im Dorf Lammintupa, unweit des Wintersportzentrums Ruka, wird die Stille von fröhlichem Gejaule zerrissen. Hier wird der Winterurlaub „flauschig“ – neben Aktivitäten wie Ice Karting und Schlittenfahren beherbergt Lammintupa eine Huskyfarm. Die zutraulichen, gepflegten Tiere, mit den eisblauen Augen, warten ungeduldig auf ihren Einsatz. Denn hier machen sie das, was ihnen am meisten Spaß macht – rennen. Und davon kriegen sie gar nicht genug. Voller Energie warten die Hunde im Fünfergespann auf ihr Startsignal, es ist ihre erste Runde an diesem Morgen, die Tiere platzen fast vor Energie und können sich kaum noch halten. Der Zweierschlitten, den die Hunde ziehen, ist leicht zu bedienen – eine Person sitzt vorne, gehüllt in Rentierfelle und kuschelige Decken, die zweite steht dahinter und bremst bei Bedarf etwas ab, wenn die Hunde zu schnell werden. Dafür gibt es eine kurze Einführung und schon der blutige Anfänger wird ohne Begleitung vom Profi auf die Runde geschickt. Zweieinhalb Kilometer geht es nun durch den märchenhaften Wald, vorbei an glitzernden Schneelandschaften. Viel lenken muss man nicht, die Hunde kennen den Rundweg und kommen nicht von ihrer Route ab. Wie im Flug vergehen die Minuten und am liebsten möchte man noch einmal los.
Anschließend gibt es noch eine Kuscheleinheit mit dem Nachwuchs, denn es gibt Welpen in Lammintupa. Eines Tages werden auch sie Schlitten durch das verschneite Lappland ziehen. Doch bis es soweit ist, toben die tollpatschigen Hundebabys mit ihren Geschwistern, kauen an den Handschuhen ihrer Besucher und bleiben mit ihren niedlichen hellblauen Augen sicher lange als eine warme Erinnerung aus dem kalten Norden.
Von Liudmila Kilian