Große Fähigkeiten, (zu) große Schwankungen: Wie viel Freiheit tut dem niederländischen Ballkünstler des FSV Mainz 05 gut?
MAINZ. Die fetten Ketten sind gesprengt und abgelegt. Der freie Geist genießt wieder seine künstlerische Freiheit, die neue alte Leichtigkeit des Seins. Man kann sich gut vorstellen, welche Tonnenlast der begabte Ballartist wochen-, vielleicht monatelang mit sich herumgetragen haben muss, dass er derart ausgebremst wurde. Dass er zwischenzeitlich sogar ein wenig desillusioniert sein Dauergrinsen verlor. Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Aber in der bewegten Geschichte des meistens bestens gelaunten Fußballprofis Jean-Paul Boetius, 27, gibt es so einige Eigentlichs.
Und das hat in den vergangenen Wochen auch sein Trainer Bo Svensson herausgefunden, der sagt: „Eigentlich muss ich einem Spieler mit solch herausragenden Fähigkeiten nicht erzählen, wie er Fußball spielen soll.“ Der 05-Coach sieht es Tag für Tag auf dem Trainingsplatz: „Djanga kann Sachen, die viele andere Spieler nicht können.“ Mit der Kugel. Und eigentlich stehen Kaliber mit einem solchen Können bei anderen, größeren Klubs im Kader – und nicht auf der Gehaltsliste eines Mittelklasse-Vereins wie Mainz 05. Wenn er es nur schaffen würde, einigermaßen konstant abzuliefern. Haute bisher nicht hin. Boetius fehlt die Balance.
Mit jeder neuen Wende in diesem wechselhaften Wandel stellte der Rotterdamer neue Rätsel. An Glanztagen geisterten die Warum-nicht-immer-so-Fragen durch die Katakomben. An Ausfalltagen blieb nur das Was-ist-bloß-mit-dem-wieder-los-Kopfschütteln. Bo Svensson ist gerade dabei, das anspruchsvolle Boetius-Rätsel zu entschlüsseln. Und seit ein paar Wochen vertraut er dem Niederländer sogar eine Hauptrolle in seinem Ensemble an, nachdem die berufliche Beziehung von Bo und Boetius eher zögerlich begann. Ein Stotterstart statt einer Startelfgarantie. Weil Svensson eben von allen Spielern die „absolute Leistungsgarantie“ erwartet, die er wiederum beim offensiven Mittelfeldspieler nur bedingt wahrnahm. Anfangs zumindest. Irgendwas fehlte. Irgendwo hakte es. Dazu kam die Systemumstellung. In den ersten drei Partien unter Svensson wurde Boetius jeweils ausgewechselt, danach saß er sieben Mal in Folge auf der Bank, fünf Mal durfte er als Joker für eine wichtigere Rolle werben.
Unterschiedmacher mit spielentscheidenden Aktionen
Und plötzlich ist er wieder Hauptdarsteller. Plötzlich ist er wieder wichtig. Und nach seinen feinen Flanken, die zu den Siegtoren gegen den SC Freiburg und die TSG Hoffenheim führten, sowie seinem Gala-Auftritt mit Traumtor und Traumvorlage gegen den 1. FC Köln fragt man sich schon, wo sich der Unterschiedmacher Boetius in den vergangenen Monaten versteckt hat. Warum war der 27-Jährige solange kein Faktor, obwohl er einer der wenigen 05-Akteure mit dem X-Faktor ist? Wenn nicht sogar der einzige, in dessen Füßen der Überraschungseffekt steckt. Wunderbare Voraussetzungen, unerklärliche Schwankungen. „Allein diese spielentscheidenden Szenen zeigen, welche Wichtigkeit er für uns hat“, sagt der 05-Coach, „aber er muss auch dranbleiben und kontinuierlich auf diesem Niveau abliefern. Dieses große Talent muss man pflegen – mit der allgemeinen Mentalität und allem, was dazu gehört.“ Alles zusammen bringt wohl die geforderte Leistungsgarantie.
Und was sagt Boetius dazu: „Dran bleiben und immer wieder bestätigen.“ Er sagt das mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Man merkt ihm an, dass ihm der allgemeine 05-Trend und seine steigende Formkurve sichtlich gut tun. „Djanga ist ein extrovertierter, emotionaler Mensch. Man muss ihm ein Stück weit die Freiheit geben, so zu bleiben, wie er ist“, sagt Svensson, „er muss nicht immer die spielentscheidende Aktion haben, und er muss und darf sich auch ausprobieren. Aber ihm muss klar sein, dass die Schwankungen kleiner sein müssen.“
Svensson setzt seinen Schützlingen die Leitplanken
Bei aller künstlerischen Freiheit, bei aller Brillanz und Extravaganz muss sich der Ballartist zwischen Leitplanken bewegen, die ihm Orientierung und Halt geben – Svensson gibt sie gerne vor. Wenn er das zurückbekommt, was er von seinem Spieler erwartet. Was ja Boetius auch von sich selbst erwartet. Und was viel leichter fällt, wenn sich wieder alles viel leichter anfühlt. Zu was er dann imstande ist, das hat er schon in ein paar Spielen gezeigt. Etwa beim letzten Gastspiel im Bremer Weserstadion, als Boetius mit genialen Ideen und messerscharfen Pässen dazu beitrug, dass die wie aufgedrehten Mainzer die bemitleidenswerten Bremer 5:0 auseinandernahmen. Ja, in diesem unvergessenen Spiel zeigte er wieder mal, dass er am Ball Sachen kann, die viele andere nicht können.