"Sie ist unglaublich": Die zehnjährige Marie Leder aus Braunfels ist eines von Deutschlands größten Turn-Talenten

WETZLAR/BRAUNFELS - Ein wenig olympische Luft weht bereits durch das Kunstturn-Leistungszentrum in Wetzlar. Das liegt nicht zuletzt an dem Reck, das in der Halle steht. Es ist das Reck aus Rio de Janeiro, an dem Fabian Hambüchen im Sommer 2016 die Goldmedaille gewonnen hat. "Da würde ich auch gern mal hin - zu Olympia", sagt Marie Leder und schaut ihre Mama Maike an. "Also, vielleicht." "Das darf man ruhig sagen, träumen ist immer erlaubt", flüstert die ihrer Tochter sanft ins Ohr.

Und Marie lächelt. Weil sie weiß, dass sie das kann. Auch wenn ihre Mutter manchmal bezweifelt, dass sie realisiert, was sie da eigentlich leistet. Denn Marie Leder, die in Braunfels wohnt und für die KTV Wetzlar turnt, ist mit ihren zehn Jahren eines der größten Talente Deutschlands. Bis in den Bundeskader hat sie es mittlerweile geschafft.

Die Hälfte ihres Lebens hat Marie bisher mit Turnen verbracht. Seit fünf Jahren ist sie beim KTV. "Marie war immer wild und hat Bewegung geliebt. Deshalb war uns früh klar, dass wir mit ihr mal zum Sport gehen." Da Mama Maike selbst aus dem Tanzen kommt, probierte Marie das zuerst aus. "Jede Mutter findet es ja süß, wenn die kleine Tochter mal ins Ballett geht und ein Tutu anhat. Aber ihr Blick hat sofort gezeigt, dass das nichts für sie ist. Sie wollte etwas mit noch mehr Bewegung." Also nächster Versuch, diesmal beim Turnen. "Das hat ihr sofort super gefallen, und sie wollte unbedingt weitermachen", sagt Maike Leder.

Und ebenso schnell, wie Marie sich für "ihre" Sportart entschieden hatte, war klar: Sie hat Potenzial. Es dauerte nicht lange, bis die junge Turnerin ihre ersten Titel einfuhr und den Sprung in den Hessenkader schaffte. Im vergangenen Jahr versuchte sie sich erstmals auf Bundesebene, nachdem sie vier Jahre in Folge auf Hessenebene an allen vier Geräten - Schwebebalken, Sprung, Barren und Boden - nicht zu bezwingen war. "Wir wollten das einfach mal auszuprobieren. Ziel war ein Platz im gesicherten Mittelfeld", blickt Maike Leder zurück. Was folgte, war eine Demonstration von Körperbeherrschung, technischer Genauigkeit und Talent, wie es selten zu sehen ist. So gewann sie unter anderem den Turn-Talentschul-Pokal in Chemnitz und den internationalen Spieth-Cup. Mama Maike, die als Stewardess arbeitet und deshalb viel unterwegs ist, war immer dabei. Egal ob auf Wettkämpfen in Essen, Stuttgart oder Baden - und Marie gewann fast alles.

Wenig überraschend folgte die Einladung von Bundestrainerin Claudia Schunk zum Bundeskadertest nach Halle (Saale). An einem Wochenende wurden die Mädchen dabei auf Herz und Nieren - und besonders auf Technik und Athletik - geprüft. "Das war anstrengend", erinnert sich Marie. Teil des Tests waren beispielsweise ein 400-Meter-Lauf, der in unter 1:30 Minuten absolviert werden musste, und Spagatsprünge, bei denen mithilfe eines Lasers der Winkel gemessen wurde. Doch Marie schaffte alles und darf nun - als eines von zwei Mädchen ihrer Altersklasse aus Hessen - das Deutschland-Trikot tragen.

Trainerin Svetlana Ivanova war selbst bei Olympia dabei

Das macht besonders ihre Trainerin Svetlana Ivanova stolz. Sie ist seit dem 1. August 2018 Maries Trainerin und war bereits da, wo ihr Schützling einmal hin möchte: Bei den Olympischen Spielen. 1988 turnte die Ukrainerin für die Sowjetunion in Tokio. "Marie ist unglaublich. Sie ist sehr talentiert und hat, wenn sie dranbleibt, eine große Zukunft vor sich", lobt sie ihre Schülerin - um aber gleich wieder abzuwiegeln: "Sie muss einen Schritt nach dem anderen machen. Es ist ein langer Weg."

Sechsmal pro Woche bittet Ivanova zum Training: montags, dienstags und donnerstags für drei Stunden, mittwochs und samstags für vier Stunden und sonntags noch einmal für drei bis vier Stunden - ein hoher Aufwand. Das weiß auch Mama Maike. "Marie schafft es sehr gut, Schule und Training miteinander zu verbinden. Und wir haben es klar mit ihr abgesprochen, dass sie uns als Eltern ein Zeichen geben soll, wenn es ihr zu viel wird."

Doch Marie turnt und turnt und verliert den Spaß nicht. "Manchmal schlägt sie beim Einkaufen im Supermarkt Räder. Das Personal kennt das schon und wundert sich nicht mehr", lacht Maike Leder. Ob es für ihre Tochter eines Tages wirklich für die Olympischen Spiele reicht, lässt sich jetzt noch nicht sagen. Doch eins steht fest: Träumen ist definitiv erlaubt.